Gemeinsame Offensive von Bürgermeister und Rektoren für Respekt, Fairness und Empathie

An Silvester Feuerwerksraketen in Menschenmengen, Angriffe auf Schiedsrichter, Steinwürfe auf S-Bahnen, Herunterpinkeln vom kleinen Schlossplatz auf Gäste einer Lokalterrasse, die Krawallnacht in Stuttgart, Attacken gegen Schulrektoren und Amtsträger: Auf der Liste, die Jürgen Kiesl zusammengetragen hat, sind Zeitungsmeldungen und -berichte. Doch der Schrecken ist nicht immer woanders, wie der Leutenbacher Bürgermeister einräumt, Beispiele vor Ort aufzählend: Vandalismus im Landschaftspark Höllachaue, Farbschmierereien an Schulgebäuden, ein herausgehobener Kanaldeckel in der Wiesentalstraße. Dass Schiedsrichter beim Amateursport, wo es „hautnah“ zugeht, von Trainer, Betreuern und Zuschauern bedrängt, beleidigt werden, hat er selbst beobachtet.
Beim Klagen will es der Leutenbacher Bürgermeister nicht belassen, nicht zur Tagesordnung übergehen. Er spricht von „Herzensthema“ und „Gewissensbildung“, einer „Tendenz in der Gesellschaft zur Verrohung“, einer „besorgniserregenden Entwicklung“, einem „Rückgang der Fairness“. Leider seien Politiker in der Hinsicht aber auch keine guten Vorbilder, siehe Trump.
„Null Toleranz für Mobbing und gewissenloses Verhalten“
Kiesl erzählt dies alles beim Pressegespräch im Rathaus zum Auftakt der von ihm ins Leben gerufenen Aktion „Gewissenskompass“. Es gehe darum, diese Entwicklung nicht einfach hinzunehmen, zu resignieren, sondern zu versuchen dagegenzuhalten. Er hat dazu die drei Leutenbacher Schulleiter als Mitstreiter gewonnen, getreu der Volksmundweisheit „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Wobei auch ihm klar sei, „dass wir die Welt damit sicher nicht verändern“. Kiesl verweist auf das Ergebnis einer Studie, wonach 75 Prozent der Jugendlichen wenig bis keine Empathie zeigten, „eine Generation von Egoisten“ heranwachse. Deshalb suche er den Schulterschluss mit den örtlichen Schulen und einheimischen Vereinen, habe die Idee einer konzertierten Aktion gehabt. Um ein Signal zu setzen: „Null Toleranz etwa für Mobbing und gewissenloses Verhalten.“ Das Ziel sei, sofort zu reagieren, wenn so etwas vorkomme, unverzüglich ein Stopp-Zeichen zu setzen.
Die Urkunde zur Aktion als Selbstverpflichtung
Die Schulen und Vereine, die sich am „Leutenbacher Gewissenskompass“ unter dem Motto „Miteinander statt gegeneinander“ beteiligen, sich dazu selbst verpflichten, bekommen eine Urkunde. Dort heißt es, man wolle gemeinsam bei Kindern und Jugendlichen das Bewusstsein für Mitgefühl und Fairness schärfen, die Empathie für Mitmenschen stärken, deutliche Grenzen setzen gegen seelische und körperliche Gewalt, und man stehe für Respekt und Achtsamkeit gegenüber anderen, „Handeln mit Herz und Gewissen“, gegenseitige Wertschätzung und Zivilcourage. Das bedeute eben den Willen einzuschreiten auch bei vermeintlichen Kleinigkeiten, so Kiesl. Wie all diese hehren Ansätze umgesetzt werden sollen, lässt er allerdings noch offen. Konkreter werden bei dem Pressegespräch, bei dem kein Vereinsvertreter dabei ist, die Schulleiter.
Heinz Wolfmaier von der Weilermer Grundschule spricht vom „Prinzen- und Prinzessinnensyndrom“, das Familien ihren Kindern vermitteln, dass sie die Wichtigsten sind. Dem versuche die Schule mit sozialem Kompetenz- und Streitschlichtertraining entgegenzuwirken.
Rektor Oliver Kurr zitiert Karl Valentin in Sachen Eltern als Vorbilder
Es sei auch seine Erfahrung, dass der Egoismus zunehme. Er könne das bestätigen, so Oliver Kurr von der Nellmersbacher Grundschule. Kinder ließen ihren negativen Gefühlen freien Lauf. Diesen Trend gebe es aber nicht erst seit wenigen Jahren. Umso wichtiger sei es, mit den Kindern Respekt, Fairness, achtsamen Umgang regelrecht zu trainieren. Der größte Faktor, dass das erfolgreich sei, seien die Lehrer als Vorbilder: „Die müssen das selbst vorleben, sonst können sie es von den Schülern nicht erwarten.“ Kurr zitiert Karl Valentin, wonach man Kinder nicht zu erziehen brauche, weil sie sowieso alles nachmachen. Er verweist darauf, dass es einen Ansatz, in die Richtung, in die es gehen soll, an seiner Schule bereits gebe. Mit den Schülern werde das Höflich-Sein insbesondere beim täglichen Begrüßen geübt, von ihnen eingefordert.
Sarah Thiesen, kommissarische Leiterin der Gemeinschaftsschule, die nicht nur Grundschule ist, sondern auch Sekundarstufe, die also Schüler bis zum Ende der Schulzeit hat, verweist auf kooperative Spiele und Lernformen („Teambuilding“), auf die Schulsozialarbeit, den Klassenrat.
Rektor Heinz Wolfmaier betont die Rolle des Sports als Korrektiv
Für Wolfmaier gehen auch erlebnispädagogische Spiele in die angestrebte Richtung, der Schulsport ohnehin, denn der funktioniere ohne gegenseitige Rücksichtnahme, „Selbstregulation“ der Kinder untereinander schlicht nicht. Viele Lehrer hätten schon längst erkannt, dass es da eine „Baustelle“ gebe. Streit unter Schülern gebe es überall, das sei keine Leutenbacher Spezialität. Deshalb seien ja Streitschlichter und Schulsozialarbeiter im Einsatz. Sein Eindruck sei, dass es in Leutenbach schon noch „anders zugeht“, anders miteinander umgegangen werde als anderswo, so Kiesl: „Wir wollen ja, dass es auch so bleibt, aber die Ausreißer häufen sich.“ Erziehung bedeute heute oft „nur“, dem Nachwuchs Selbstbewusstsein, Durchsetzungsfähigkeit zu vermitteln.
Man komme da als Lehrer und Schulleiter nur weiter, wenn man den „Anschluss“ an die Jugendliche halte, ihn nicht verpasse, das sei ihre Erfahrung, so Sarah Thiesen: „Wir müssen dazu wissen, was die bewegt.“ Die Jugendlichen von heute seien offener als die früheren Generationen, das sei auch eine Chance, die es zu nutzen gelte. Kurrs Erfahrung, die praktiziere er auch, ist, dass Lob, positive Verstärkung wie ein „Turbo“ funktioniere, um erwünschtes Verhalten zu generieren: „Das macht es viel einfacher, als wenn man mit Geboten oder Verboten arbeitet.“ Grundschule bedeute auch sehr viel „erziehen“, so Wolfmaier. „Das ist den Lehrern dort schon immer klar, auch den Referendaren, die von der Pädagogischen Hochschule zu uns kommen.“ Er hält die Gemeinschaftsschule als Schulform für viel geeigneter als die traditionellen Schularten, auch erzieherisch einzuwirken, lobt die Stiftung gegen Gewalt an Schulen, die nach dem Amoklauf in Winnenden entstand, auch die habe ihren Anteil daran, dass die Schulen im Winnender Raum allesamt keine Brennpunktschulen seien.
Selbstkontrolle: Probleme damit bereits in den Kindergärten
Leider sei auch bereits in den Kindergärten eine deutliche Verschlechterung in Sachen Respekt, Selbstkontrolle, Achtung von Grenzen, festzustellen, so Jana Geiger-Ott, in der Verwaltung die zuständige Sachgebietsleiterin. Dagegen müsse und werde gezielt angegangen. Es werde versucht, etwa mit Rollenspielen, die Kinder zu einem mitfühlenden Umgang miteinander zu bringen. Natürlich müssten die Erzieherinnen dabei selbst Vorbilder sein. Auch Arbeit mit den Eltern brauche es, weil die Kinder sich eben zu Hause an denen orientieren, zum Beispiel Elternabende zum Thema „gewaltfreie Kommunikation“. Man müsse eben versuchen, die betreffenden Eltern über die Kinder zu erreichen, ergänzt Kurr. Durch das frühe Eingreifen lasse sich oft noch etwas bewirken, so Wolfmaier. Die Resonanz bei den Eltern sei unterschiedlich. Es gebe durchaus welche, die nur schwer zu „erreichen“ seien. Nicht umsonst gebe es das afrikanische Sprichwort, dass es für die Erziehung eines Kinds ein ganzes Dorf brauche. Auch die Bedeutung sozialer Medien sei nicht zu unterschätzen. Jugendliche bräuchten angesichts überflüssiger, gehässiger Kommentare Medienkompetenz oder auch „Benimmregeln“ für Wettkämpfe im Vereinssport. Da gebe es mitunter auch üble Zurufe von der Seitenlinie.