Einblicke in die Psyche des Täters
Waiblingen/Stuttgart.
Er riss ein Waschbecken aus der Wand, trieb Mithäftlinge zur Weißglut, war in Schlägereien verwickelt und bedröhnte sich bisweilen bis zur Unansprechbarkeit mit Medikamenten und Drogen: Vor allem in den letzten Jahren seiner zehnjährigen Haftzeit führte Deniz E., der Mörder von Yvan Schneider, das Gefängnispersonal an Grenzen.
Eine rechtlich hochkomplexe Frage gilt es zu klären in der derzeit laufenden Verhandlung am Stuttgarter Landgericht: Ist Deniz E. nach wie vor so hochgradig gefährlich, dass er, obwohl seine zehnjährige Jugendstrafe wegen Mordes abgelaufen ist, in sogenannte „Sicherungsverwahrung“ genommen werden darf? An Tag zwei des Prozesses berichteten Zeugen, die mit Deniz E. in den vergangenen Jahren zu tun hatten: Psychologen, Sozialarbeiter, Gefängnispersonal, Haftjuristen. Aus den einzelnen Aussagen lässt sich ein Gesamtbild zusammenfügen.
Oft fordernd aufgetreten
Leicht war es mit ihm wohl von Anfang an nicht. In der Haft sei er „fordernd“ aufgetreten: „Ich brauch das, ich brauch das, ich brauch das“. Wenn er „was wollte und man sagte nein“, sei schnell das „Tuch zerrissen“ gewesen. Den Kontakt zu Ärzten habe er gemieden und deutlich gemacht, dass er nicht „an einer Behandlung interessiert“ sei. Über den Mord habe er „nie reden“ wollen. Aber anfangs habe er sich „im Großen und Ganzen an die Hausordnung“ gehalten, „sehr viel Kraftsport betrieben“, auch gearbeitet und dabei „Akkordzahlen geschafft, die waren super“. So habe er „richtig viel Geld verdient“; wenngleich der Elan im Lauf der Zeit erloschen sei, weil er sich ungerecht bezahlt gefühlt habe.
Die Entscheidung in diesem auf mehr als ein halbes Dutzend Prozesstage bis Mitte April angesetzten Verfahren naht wohl erst, wenn am Ende zwei psychiatrische Gutachter ihre Einschätzungen abgeben werden: Diese Aussagen dürften eine Schlüsselrolle für die Bewertung spielen, die das Gericht letztlich vornimmt.
Zerschlagene Hoffnungen: „Sieben Zwölftel“ und „Halbstrafe“
2011 sah es so aus, als lasse er sich nun doch auf eine sogenannte Sozialtherapie ein. Offenbar verband er damit eine Hoffnung: Würde er mitziehen, käme er womöglich vor der Zeit auf Bewährung frei. Er habe gesagt: „Ich bin Jugendgefangener – sieben Zwölftel, das wird ja wohl kein Problem sein.“ Das Jugendstrafrecht sieht die Möglichkeit vor, dass ein einsichtiger Häftling nach sieben Zwölfteln der Strafe bedingt entlassen werden kann; in diesem Fall also: nach etwa sechs von zehn Jahren.
Wer an so einer Sozialtherapie teilnehmen will, muss zwei Voraussetzungen erfüllen. Erstens: „selbstkritisch“ und „problembewusst“ sein. Zweitens: Drogenabstinenz. Was E’s Einsichtsfähigkeit betrifft, gaben die Experten „mit einiger Skepsis“ grünes Licht. Doch bei einer Urinkontrolle wurde er positiv auf Cannabis getestet.
Der Therapiebeginn wurde um ein halbes Jahr verschoben. Worauf Deniz E. erklärte, er wolle nun doch „keine Behandlung – ich will abgeschoben werden“ in die Türkei. Sein Kalkül: Wäre er zur Ausreise bereit, könnte er mit der „Halbstrafe“ davonkommen, also bereits nach fünf Jahren Haft Deutschland verlassen, in die Freiheit. Allein, auch das zerschlug sich: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart legte ihr Veto ein.
"So breit, dass er keinen Becher halten konnte"
Danach häuften sich die Wutausbrüche. E. hieb gegen Wände, Türen, Scheiben, seine Hände seien deshalb „meistens sehr geschwollen“ gewesen. Manchmal habe er nachts die Matratze senkrecht gestellt und stundenlang darauf eingeschlagen. Mehrmals kam es auch zu Schlägereien mit anderen Insassen. Mal habe er einem „ein ordentliches Veilchen“ verpasst, mal selber ein blaues Auge davongetragen.
Dramatisch entwickelte sich sein Suchtmittelkonsum: Teilweise bekam er vom ärztlichen Personal Medikamente in enormer Dosierung verschrieben; Mittel, die ihm nicht behagten, nahm er zwar ein, übergab sich danach aber gezielt; Pillen, deren Wirkstoff er schätzte, schluckte er nur zum Schein, holte sie wieder aus dem Mund, öffnete die Kapseln und schnupfte das Pulver. Hinzu kam offenbar ein heftiger „Beikonsum“ an Drogen, die als Schmuggelware im Gefängnis kursierten. Manchmal sei er „nicht ansprechbar in der Zelle“ gelegen oder „so breit“ gewesen, „dass er keinen Wasserbecher mehr halten konnte“.
Stundenlang gegen die Wand geschlagen
Am Ende seien „normale Gespräche quasi nicht möglich“ gewesen, an „Vereinbarungen“ habe er entweder „kein Interesse“ gehabt oder sie „am nächsten Tag vergessen“. Immer wieder sei er in Hungerstreik getreten, habe allerdings nie so lange durchgehalten, dass es gesundheitsgefährdend wurde. „Zehn-, zwölfmal im Jahr“ habe er mit Suizid gedroht. Zu einer Haftjuristin habe er gesagt, sie solle „sich ficken“. Tagsüber habe er geschlafen und „nachts stundenlang gegen die Wand geschlagen“ (weshalb Mithäftlinge nicht schlafen konnten) oder mit einem manipulierten Wasserkocher die Sicherungen auf seinem Stockwerk rausfliegen lassen (weshalb Insassen, die noch fernsehen wollten, ohne Strom dasaßen).
Er sei auf eine andere Etage verlegt worden und habe insgesamt drei Zellen „derart beschädigt“, dass sie „vorübergehend nicht mehr bewohnbar“ waren. Einmal habe er „ein Waschbecken“, einmal „eine Toilettenschüssel aus der Wand gerissen“.
Ein Mitgefangener drohte gegenüber dem Personal, wenn Deniz E. weiter „Bum-Bum gegen die Wand macht, mache ich Bum-Bum mit seinem Kopf“. Ein anderer kündigte an: Wenn das so weitergehe, werde E. „bald in einer Blutlache“ liegen. Zwischenzeitlich kam er in eine Sonderabteilung für schwierige Fälle und wurde dort verprügelt. Insassen begründeten: „Der hat’s verdient.“ Deniz E. wurde, auch zu seinem eigenen Schutz, in Einzelhaft genommen – „das letzte Mittel, wenn überhaupt nichts anderes mehr geht.“
Er sagte zum Wachdienst: Das sei „Psychoterror“, was mit ihm hier passiere. Eine Haftjuristin: „Er meinte, dass wir ihm das Leben schwermachen.“
Die andere Einschätzung
Eine Justizvollzugsbeamtin stellte Deniz E. im Zeugenstand ein eher positives Zeugnis aus: Sie glaubt, man habe ihn durchaus erreichen können. „Wenn ich mit ihm allein war“, habe sie manchmal „ein paar Minuten ganz normal zwischenmenschlich reden können“ mit ihm. Aber „es wurde nie was unternommen, um diesem jungen Mann irgendwie zu helfen“.
Richter Holzhausen wandte ein, Deniz E. habe doch laut Akten und anderen Zeugen alle Behandlungsangebote abgelehnt. Antwort: „Das ist ein Standardsatz, damit man in nichts reinkommt.“ In den letzten Haftjahren habe es für Deniz E. aus Personalmangel gar nicht mehr die Möglichkeit gegeben, mit einem Psychologen ein Einzelgespräch zu führen – man müsse „tausendmal“ nachfragen, bis so etwas endlich zustande komme. Stattdessen sei die Medikamentierung „utopisch nach oben geknallt“ worden. Dazu sei der „Beikonsum“ gekommen: Es gebe „nicht alles“ im Gefängnis, aber „viel“ – und „tausend Möglichkeiten“, an Drogen zu gelangen.
Einmal habe er gesagt: „Ich kann nicht mehr.“ Sie habe deshalb 2016 einen Brandbrief geschrieben: Es müsse sich etwas ändern, „bevor etwas Schlimmes geschieht“. Aber „das Einzige, was er dann bekommen hat, war ein Wutball, den er durch die Gegend pfeffern konnte“.
Hat sie erlebt, dass er sich mit seiner Mordtat auseinandergesetzt hat? „Nee.“