Welzheim

Ein Leben lang schuldig

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Symbolfoto. Hinterbliebene müssen einen Weg finden, mit dem Verlust umzugehen. Verursacher quält die Schuld. © Habermann / ZVW

Kaisersbach/Waiblingen. Wohl wegen versuchten Mordes muss sich ein 20-Jähriger bald vor Gericht verantworten. Der junge Mann sitzt in U-Haft. Er war laut Staatsanwaltschaft betrunken, als er am 8. Juli einen Fußgänger angefahren und tödlich verletzt hat. Dem Fahrer droht mehrjährige Haft, weil er den Verletzten einfach zurückgelassen hat. Wie Menschen nach solch einem Drama mit Schuld umgehen, erforscht Prof. Pia Andreatta.

Die Polizei hatte den mutmaßlich Schuldigen nach dem Unfall in Kaisersbach schnell aufgespürt: Am Unfallort lagen Wrackteile und Kennzeichen auf der Straße.

Noch ist keine Anklage erhoben, und die Ermittlungen sind noch nicht ganz abgeschlossen, sagt Jan Holzner von der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Der Vorwurf des versuchten Mordes steht im Raum, weil der 20-Jährige sich offenbar nicht um das Opfer gekümmert und stattdessen Unfallflucht begangen hat. Eine Obduktion ergab laut Holzner, dass der Fußgänger nicht hätte gerettet werden können.

Zunächst dürfte sich der 20-jährige Fahrer wegen fahrlässiger Tötung verantworten müssen. Die Unfallflucht geschah allem Anschein nach, weil der junge Mann diese erste Straftat verdecken wollte – und damit liegt ein „Mordmerkmal“ vor, wie Jan Holzner erläutert. Obwohl das Opfer starb, ist von versuchtem Mord die Rede. Niemand hätte mehr helfen können, das ist der Grund dafür.

Fest steht mittlerweile auch, dass der Beschuldigte zum Zeitpunkt des Unfalls unter Alkoholeinfluss stand, so der Pressestaatsanwalt weiter. Es lag „absolute Fahruntüchtigkeit“ vor; davon geht man ab einem Blutalkoholgehalt von 1,1 Promille aus.

Die näheren Umstände wird das Gericht klären. Der Vorwurf wiegt so schwer, dass der junge Mann mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen muss, bestätigt Jan Holzner.

Leitplanke bohrt sich durch die Beifahrertür: Mitfahrer tot

Ein anderer tödlicher Unfall liegt einige Monate länger zurück. Wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in vier Fällen muss sich ein 82-Jähriger verantworten, der am 22. Januar dieses Jahres auf der B 29 bei Winterbach einen Unfall verursacht hat. Der Senior hatte ein anderes Auto überholt, geriet nach links und prallte dann mit seinem Ford gegen ein anderes Auto. Beide Fahrzeuge durchbrachen eine Leitplanke. Ein Teil der Leitplanke bohrte sich durch die hintere Beifahrertür des Ford und verletzte einen Mitfahrer tödlich. In diesem Fall war laut Jan Holzner kein Alkohol im Spiel, und der 82-Jährige befindet sich auf freiem Fuß. Sein Fall wird am Amtsgericht Schorndorf verhandelt.

Ein Gericht kann ein Urteil fällen und damit eine Aussage zur Schuld treffen. Damit ein Leben lang zurechtkommen muss ein Täter selbst. Die Familien der Opfer werden zu Recht entgegnen: Wir tragen ebenfalls lebenslang an diesem Verlust, und wir können nichts dafür.

"Man erschreckt vor sich selber halt die ganze Zeit“

Pia Andreatta, Professorin am Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung an der Uni Innsbruck, wendet sich dennoch den Schuldigen zu. Sie hat 2015 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Ohne Absicht schuldig“. Es befasst sich mit den psychischen und sozialen Folgen für Menschen, die andere unbeabsichtigt verletzt oder gar getötet haben.

In einer Zusammenfassung der Ergebnisse aus Interviews mit 25 Betroffenen berichtet die Forscherin, „allein das Daran-Denken löst oft noch nach Jahren starke Ängste aus“. Schuldgefühle quälen die Betroffenen; einige von ihnen werten sich selbst als Person deutlich ab. „Man erschreckt vor sich selber halt die ganze Zeit“ – „Ich glaube nicht, dass ich je sagen könnte, ich fühle mich nicht mehr schuldig“ – Sätze wie diese zitiert die Professorin in ihrer Schrift.

Ein Streben nach Selbstbestrafung zeigten viele der Menschen. Sie verzichten auf Freude, auf Essen, Wohlbefinden und Lebendigkeit. Und sie quälen sich mit der Frage, weshalb sie selbst am Leben sind, der Unfallgegner aber nicht.

Menschen flüchten sich oft in Argumente

„Schuld ist eng verbunden mit Scham“, schreibt Pia Andreatta weiter. In den Gesprächen hatte sie es auch mit Menschen zu tun, die alles daransetzen, ihre Scham abzuwehren. Sie stellen den Tod eines anderen als etwas hin, das nun mal passiert im Straßenverkehr. In diesen Fällen war keinerlei Fähigkeit oder Bereitschaft zu spüren, sich in die Angehörigen einzufühlen.

In den Interviews sprachen einzelne Unglücksfahrer deutlich ausführlicher über die Schäden an den Autos als über die fatalen Folgen für die Opfer. Die Psychologie spricht davon, dass Menschen sich in Argumente flüchten, die Schuld relativieren – „ein Mensch ist keine Maschine“; „Fehler passieren“. Manch ein Beschuldigter versucht gar, die eigene Schuld zu mindern, indem er dem Opfer Vorwürfe macht oder geringschätzig über es spricht: Warum musste der auch auf die Straße rennen, ohne zu schauen. Das war nur ein Durchreisender.

Eine Frage der Verantwortung

Völlig unterschiedlich gehen die Befragten mit Verantwortung um. „Verantwortung wird gesucht, abgewogen, eingegrenzt, vermieden und - überschätzt“, schreibt Andreatta. Es gibt Autofahrer, die ihren Alkoholkonsum als Rechtfertigung für den Unfall anführen – und andere, die angesichts ihres schuldhaften Verhaltens nicht mehr leben wollen.

Kontakt zu einem schwer verletzten Opfer oder zu Hinterbliebenen aufzunehmen, fällt unendlich schwer. Ein Treffen kann beiden Seiten helfen – oder den Graben nur vertiefen. Es kommt auf die Persönlichkeiten an, aufs Umfeld eines Treffens, auf die Fähigkeit beider Seiten, die Emotionen des anderen ertragen zu können. Eine Verursacherin eines Unfalls formulierte in den Interviews diesen Wunsch: „Ein Stück Vergebung erhofft man sich von den Angehörigen. Aber die Angehörigen sind da ja auch zu beschäftigt mit sich, oder es geht halt nicht.“

Im Paragrafen 222 des Strafgesetzbuches steht: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“