Winterbach

Weil der reine Kapitalismus kein Glück bringt

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Ha Vinh Tho bei seinem Vortrag vor Bildern aus Kriegsgebieten: Der Kindersoldat im Sudan und anderswo als Resultat des deutschen Bruttoinlandsprodukts? © Ramona Adolf

Winterbach-Engelberg. Er exportiert eine revolutionäre Idee in die ganze Welt: Im Namen des Himalaya-Staates Bhutan propagiert der ehemalige Waldorflehrer Ha Vinh Tho das Konzept des Bruttonationalglücks anstelle des Bruttoinlandsprodukts. Die Botschaft ist Kapitalismuskritik: Nur wenn das Streben nach Profitmaximierung zurücktritt, wird die Welt für alle dauerhaft lebenswert. In Bhutan ist diese Idee Grundlage der Verfassung.

Video: Ha Vinh Tho, Direktor des Zentrums für Bruttonationalglück in Bhutan (Gross Happiness Center Bhutan).

Was Ha Vinh Tho den Waldorfschülern im Großen Saal ihrer Schule zu erzählen hatte, das gibt er selbst zu, ist ein Märchen. Es beginnt mit dem klassisch-märchenhaften Satz: „Es war einmal ein junger König.“ Jigme Singye Wangchuck war 17 Jahre alt, als sein Vater, der König von Bhutan, starb und er 1974 seine Nachfolge auf dem Thron antreten musste. Doch schon in seinem jugendlichen Alter sei der König sehr weise gewesen, so Ha Vinh Tho, denn: „Er wusste, dass er nichts wusste.“ Seine Geschichte geht so weiter: Weil der König keine Ahnung hatte, was er mit seinem Land anfangen und wohin er es führen sollte, machte er sich auf und ging zwei Jahre lang kreuz und quer zu Fuß durch Bhutan. Überall, so erzählt Ha Vinh Tho, habe er die Menschen gefragt: Was ist euch wichtig?

„Für diese Länder sind Kriege gute Nachrichten“

Am Ende der Geschichte wusste König Jigme Singye Wangchuck: Es ist kompliziert. Denn den ganz verschiedenen Menschen in den verschiedenen Regionen seines Landes waren sehr verschiedene Dinge wichtig. Aber eines habe es gegeben, so Ha Vinh Tho, das alle wollten: glücklich sein. Der König prägte daraufhin den Begriff der „Gross National Happiness“, dem Bruttonationalglück im Gegensatz zum „Gross National Product“ dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Beim BIP konnte und kann das arme, kleine Bhutan (750 000 Einwohner auf einer Fläche etwa so groß wie die Schweiz, mehr als 80 Prozent der Fläche über 2000 Meter Höhe) nicht viel vorweisen.

"Das Bruttoinslandsprodukt hat mehrere Systemfehler"

„Das Bruttoinlandsprodukt ist in der modernen Welt die Heilige Kuh“, sagt Ha Vinh Tho. Alles werde danach gemessen. Dabei habe es mehrere Systemfehler. Für den Wert des BIP sei es egal, ob eine Ware oder Dienstleistung etwas Positives oder etwas Negatives sei und welche Auswirkungen sie auf Gesellschaft oder Umwelt habe. Die perfekte Ware aus Sicht des BIP seien Waffen: „Eine Rakete schießt man einmal ab und muss dann eine neue kaufen.“ Waffenhandel leiste einen erheblichen Beitrag zum BIP aller Industrienationen. „Für diese Länder sind Kriege gute Nachrichten.“

Ein teuflischer Kreis

Ha Vinh Tho ist in Frankreich geboren, doch sein Vater stammt aus Vietnam. Der Krieg in Vietnam habe ihn als Kind geprägt, erzählt er den Waldorfschülern. Später arbeitete er für das Internationale Rote Kreuz in Kriegsgebieten. An der Waldorfschule wirft er mit dem Projektor Bilder an die Wand, die sudanesische Kinder gemalt haben: Männer mit Gewehren schießen fliehende Menschen zusammen, Häuser brennen. Dann ein Foto: ein Kindersoldat mit einem riesigen Maschinengewehr. Der Krieg im Sudan sei ein Krieg ums Wasser, ordnet Ha Vinh Tho ein, ausgelöst durch eine Dürre, eine Folge des Klimawandels. Begreift man den Klimawandel wiederum als Folge des Raubbaus an der Natur durch die globale Wirtschaft, so schließt sich ein teuflischer Kreis: Der Anstieg unseres BIP stürzt in Afrika ein Land in einen Krieg, der wiederum mit Waffen geführt wird, die wir verkaufen und damit unser BIP steigern.

Konsequenz aus der Erkenntnis: Es gibt Grenzen des Wachstums

„Wir können in einer begrenzten Welt kein unbegrenztes Wachstum haben“, fasst Ha Vinh Tho eine Erkenntnis zusammen, die nicht gerade neu ist. Dass der aktuelle Ressourcenverbrauch der Menschheit keine Zukunft hat, ist klar. Die Frage nach den Grenzen des Wachstums drängt sich auf. Auch die Kritik am BIP als alleiniger Messgröße für Fortschritt und Entwicklung hat nicht der König von Bhutan erfunden. Aber die letzte Konsequenz hat bisher kein Staat daraus gezogen.

Glück als etwas Universelles und Dauerhaftes

Bhutan hat diesen Weg unter seinem König Jigme Singye Wangchuck eingeschlagen. Das Glück im Bruttonationalglück, so wie Ha Vinh Tho es als Botschaft transportiert, ist nicht nur ein individuelles. Es geht nicht um ein oberflächliches persönliches Wohlfühlgefühl, wie es die Werbung verspricht, sondern um etwas Universelles, Dauerhaftes. „Das Bruttonationalglück versucht zu zeigen, dass man Fortschritt haben kann, ohne die Welt zu zerstören“, sagt Ha Vinh Tho. Dazu hat sich Bhutan eine Verfassung mit einigen beachtenswerten Leitlinien gegeben, die zum Beispiel die Bewahrung der Umwelt sichern sollen. In der Verfassung steht etwa die Verpflichtung, dass 60 Prozent der Fläche des Landes bewaldet bleiben müssen.

Kritiker: Bhutan eines der unterentwickeltsten Länder

Das Bruttonationalglück ist ein Versuch, der weltweit Echo gefunden hat. Doch es gibt auch Kritiker des Märchens aus Bhutan. Sie weisen darauf hin, dass das lange Zeit autoritär regierte Land bei allem Fortschritt noch immer eines der unterentwickeltsten der Welt ist. Es gibt nach wie vor viel Armut und Jugendarbeitslosigkeit. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich Kratzer im Erfolgsmodell. Darüber hat Ha Vinh Tho auf dem Engelberg nicht geredet. In einem Interview mit einer österreichischen Zeitung sagte er, Bhutan sei „ein kleines Land mit vielen Problemen. Aber es versucht ehrlich, seinen Weg zu gehen“.

Schüler sind "Träger der Zukunft"

Ein Fehler kann es jedenfalls nicht sein, wenn die Grundidee des Bruttonationalglücks Schule macht. Dazu ist Ha Vinh Tho in der Welt unterwegs und hält Vorträge wie jetzt auf dem Engelberg, am Mittwochvormittag vor Schülern, am Abend für die Öffentlichkeit. Die Schüler sind ihm dabei jedoch besonders wichtig. Als „Träger der Zukunft“ werde es auf sie ankommen, „wie es weitergeht mit unserem Planeten“, appellierte er. In diesem Sinne ist eine Reise in die Ideenwelt des Bruttonationalglücks für alle, die die Welt verbessern wollen, allemal lohnenswert.

Bruttoinlandsprodukt und Bruttonationalglück

Das Bruttoinlandsprodukt bezeichnet den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem bestimmten Zeitraum im Inland erwirtschaftet wurden.

Demgegenüber soll das Bruttonationalglück oder Bruttoinlandsglück, wie es in Bhutan verstanden wird, nicht nur materielle Faktoren zum Messen der Entwicklung von Staaten einbeziehen.

Glück wird darin weniger als ein oberflächliches, individuelles Sich-Gut-Fühlen verstanden. Es geht um eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft, in der diese sich stärker an nicht-materiellen Werten ausrichtet.

Das Bruttonationalglück wird mit verschiedenen Daten, aber auch durch Befragungen der Menschen mit wissenschaftlichen Methoden aus Psychologie und Soziologie gemessen.