Kommentar: Die S-Bahn im Gar-nicht-Takt - und nun?

Jetzt ein E-Bike kaufen – das dürfte sich auszahlen. In naher Zukunft fährt wochenlang keine einzige S-Bahn mehr zwischen Waiblingen und Bad Cannstatt. Auf den Straßen reiht sich derweil ein Auto stehend ans nächste, und selbst den hinterletzten Schleichweg hat die geplagte Pendlerschaft längst entdeckt.
Mit einem E-Bike kommt man vermutlich am schnellsten durch. Eine gewisse Risikobereitschaft ist aber vonnöten, weil man sich als Mensch auf zwei Rädern recht nah und ungeschützt entlang der Blechlawine durchzuschlängeln hat.
Noch sind die Wutwolken nicht verraucht nach der dreisten Ankündigung der Bahn: Das tut uns jetzt außerordentlich leid, hieß es sinngemäß in der legendären Mitteilung vom 10. März – aber wir müssen ein bisschen Gleise sperren. Nicht nur hin und wieder und nur nachts. Wochenlang stehen alle Räder still zwischen Waiblingen und Cannstatt. Sorry! Dass diverse Buddeleien anstehen, habt ihr ja gewusst, doch wir müssen tiefer buddeln und länger als gedacht.
Der S-21-Verantwortliche Olaf Drescher kriecht zu Kreuze
Wie konnte das passieren? Und wer trägt Schuld?
Alle Details kennt Olaf Drescher, der für S 21 und den gesamten Digitalkram drum herum verantwortlich zeichnet. Längst nicht alle Details hat er jüngst in der Sitzung des Verkehrsausschusses der Regionalversammlung auf den Tisch gelegt – doch er kroch zu Kreuze, um die Regionalrät/-innen zu besänftigen: Entschuldigung!
Während sich in der Sitzung im ehrwürdigen Stuttgarter Haus der Wirtschaft der geballte Zorn entlädt, kann man auf Fluren Führungskräften begegnen. Sie versichern glaubhaft und mühsam beherrscht: Nein, wir haben das auch nicht gewusst. Wir sind genauso aus allen Wolken gefallen wie Sie.
Das ist das eigentlich Unglaubliche an diesem ganzen Schlamassel: Die Bahn inklusive Olaf Drescher und Konsorten haben im Alleingang in irgendwelchen Hinterzimmern beschlossen, Bahnstrecken sehr viel länger und sehr viel umfassender komplett zu sperren als angekündigt. Dass es so kommt, wussten sie schon länger, doch vor den Latz geknallt haben sie das allen erst jetzt. Die Bahn kann sich so etwas erlauben, weil für sie schon länger der gute alte Spruch gilt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert.
In diversen Sitzungen sind die Fetzen geflogen
Wer hier im Detail woran Schuld trägt, inwieweit mit unverzichtbaren Bauarbeiten beauftragte Firmen ihre Planung versaubeutelt haben und so weiter und so fort – geschenkt. Jedenfalls sind in diesen Besprechungen die Fetzen geflogen, so viel steht fest. Der Kernpunkt der Debatte: Was ist schlimmer, Zigtausende Pendlerinnen und Pendler im Regen stehen lassen oder den S-21-Start, terminiert auf Ende 2025, noch mal verschieben?
Man entschied sich gegen die Pendlerschaft und versprach, einen Regenschirm für sie aufzuspannen – in Form von Schienenersatzverkehr. Nach Bussen und vor allem nach Fahrerinnen und Fahrern will man deutschlandweit fahnden, denn an dieser Ecke herrscht momentan eine gewisse Knappheit.
Wer nun glaubt, nach den Sommerferien, wenn auch die Stammstreckensperrung zwischen den Halten Hauptbahnhof (tief) und Österfeld endet, wer also glaubt, danach wird alles besser – muss schon sehr blauäugig sein. Das hier ist erst der Anfang. Bis die Voraussetzungen geschaffen sind, damit der digitale Knoten Stuttgart funktionieren kann, und bis er dann tatsächlich funktioniert, sofern das jemals gelingt – das dauert noch Jahre.
Trotz allem: Verständnis für die Misere
Sobald man sich nur ein kleines bisschen in die Einzelheiten vertieft, entwickelt man als mitfühlender Mensch ein gewisses Verständnis für die Misere: Hier entsteht wahrhaft Großes, überwältigend Neues, Hochkompliziertes. In Stuttgart entsteht ein digitaler Bahnknoten, den es in dieser Form noch nirgends gibt, nicht mal in der Schweiz. Stuttgart wurde auserkoren, diesen monumentalen Knoten als allererste Stadt überhaupt auf den Weg zu bringen. Natürlich hat das mit S 21 zu tun, denn dieses Konstrukt würde niemals funktionieren, hinge es von störanfälligen Signaltäfelchen alter Schule ab. Ob es mit neuer Technik funktioniert, wird man dann sehen. Am Anfang vermutlich eher nicht.
Irgendwie ist es schon cool, im Speckgürtel einer Großstadt zu leben, die bahnbrechende Digitaltechnik im Schienenverkehr installieren darf (und muss). Der Nachteil: In Stuttgart wird man sämtliche Kinderkrankheiten auszukurieren haben, die ein solches Projekt, für das es keinerlei Blaupause gibt, nun mal mit sich bringt. Später wird eine Blaupause existieren, weil Stuttgart sie liefert. Die Pendlerschaft in anderen Teilen Deutschlands spart sich dadurch eine Menge Schweiß.
Eine echte Verkehrswende kann nur unter Schmerzen gelingen
Es hilft ja alles nichts, also könnte man zur Abwechslung einen positiven Blick auf die Dinge wagen: Die Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass-Strategie führt ins Nirgendwo. Eine Verkehrswende, die diesen Namen auch verdient, muss gelingen. Umsetzen lässt sie sich nur unter großen Schmerzen und mit viel Geduld.
Der überwältigende Umbau zu digital gesteuertem Schienenverkehr wird nun – auch – auf dem Rücken der Rems-Murr-Pendlerschaft ausgetragen, weshalb die Frage lohnt: Was ist das überhaupt, der digitale Bahnknoten Stuttgart?
Digitale Leit- und Sicherungstechnik soll künftig den Zugverkehr steuern. Das vielzitierte ETCS, also das europäische Zugbeeinflussungssystem, ist nur ein Baustein unter vielen, die alle zusammen den beispiellosen digitalen Knoten bilden sollen. Mittels ETCS lassen sich, so lautet das Versprechen, Zugfahrten viel präziser steuern, als die alte Technik das je könnte (wobei ETCS andernorts längst noch nicht reibungslos funktioniert). Im digitalen Knoten kommt ferner ATO zum Einsatz, was wiederum für Automatic Train Operation steht.
Man darf sich das System wie einen ferngesteuerten Tempomaten vorstellen: „Die Strecke teilt dem Zug mit, wann er an welchem Ort sein soll. Das Fahrzeuggerät regelt das Tempo entsprechend“, heißt es in einer Info der Bahn. Digitale Stellwerke bilden das Rückgrat von allem. Ein Computersystem wacht also darüber, dass die Weichen richtig gestellt sind – und vieles mehr. Im Bereich Waiblingen / Bad Cannstatt müssen nun für die Digitalisierung rund 1200 Kilometer Kabel verlegt werden. Es sind mehr als 70 neue Kabelquerungen unter Gleisen und in Bahnhöfen zu bauen.
Noch mehr Verkehr in ein eh schon marodes System gepresst
Erfrischend selbstkritisch gab sich wortgewandt wie eh und je im Verkehrsausschuss ausgerechnet Gabriele Heise. Sie gehört der FDP-Fraktion im Regionalparlament an, und die Liberalen sind nun nicht gerade diejenigen, die am laufenden Band durch ausufernde Selbstzweifel auffallen würden. Gabriele Heises Aussage jetzt im Ausschuss, man höre und staune: Vielleicht hätte man bei der einen oder anderen Entscheidung etwas intensiver darüber nachdenken sollen, welche Konsequenzen sie mit sich bringt. Konkret ging’s um den Viertelstundentakt, von dem die Region glaubte, sie müsse ihn dem S-Bahn-Verkehr unter allen Umständen verordnen.
Schon schön, wenn tatsächlich alle 15 Minuten eine S-Bahn fährt (was sie ja nicht tut). Nur hat die Bahn halt zuvor die Infrastruktur verrotten lassen. Die alten Signalgeber und diese gesamte historische Knattertechnik, ohne die eine S-Bahn keinen einzigen Meter vorankommt, müssen noch lange durchhalten, bis die schöne neue digitale Verkehrssteuerung die Menschheit beglückt. In ein marodes System, das eh schon ächzt und schnaubt wie ein altes Walross, noch viel mehr Fahrten hineinzupressen, war, gelinde ausgedrückt, eine mäßig gute Idee. Sie passt allerdings zu einem Trend, der in diversen anderen Bereichen ebenfalls zu beobachten ist: Von kundigen Mahner/-innen lassen wir uns doch den Spaß nicht verderben. Wir machen das jetzt einfach trotzdem – und bums, fährt die Karre an die Wand.
Hoffentlich wird schönes Wetter
Das alles geht vorbei. Man weiß nur nicht, wann. Zwei, drei Gänge zurückzuschalten, könnte helfen, denn ob die Zustandsbeschreibungen „Verkehrsinfarkt“, „Desaster“ und „Vollchaos“ wirklich zutreffen werden, sieht man ja dann.
Unterdessen lehne sich zurück, wer kann, und spiele die E-Bike-Variante durch. Im Vergleich zu Vaihingen und Böblingen verbucht der Rems-Murr-Kreis einen unschätzbaren Vorteil für sich: Die Vollsperrung ab Waiblingen fällt ins Frühjahr bei hoffentlich bestem Fahrradwetter – während sie auf der anderen Seite Stuttgarts im Herbst und Winter zeitweise keinen Zentimeter vorankommen werden.