Rems-Murr-Kreis

Am Drücker für Menschenrechte: Zwei Amnesty-Aktive nennen die Dinge beim Namen

ssland
Screenshot eines Tweets von Kevin Rothrock vom 12. März 2022. Das Foto zeigt die Festnahme einer Demonstrantin in Russland. © Screenshot Twitter

Sie entfernte Preisschilder auf Nudelpackungen und klebte Antikriegs-Slogans darauf. In St. Petersburg wagte die Künstlerin Aleksandra Skochilenko genau das, und jetzt sitzt sie in U-Haft. Während sie dort der Dinge harrt, die ihr noch drohen, beklagen Leute in Deutschland, man könne nicht mehr alles sagen.

Mit der Ungerechtigkeit in der Welt muss umgehen können, wer sich wie Barbara Erbe bei Amnesty International engagiert. Man wird dort mit der Nase draufgestoßen, wie Menschen anderen Menschen elementare Rechte verweigern.

Barbara Erbe und Dr. Barbara Weckler gehören beide bei Amnesty der Gruppe Meinungsfreiheit an, und sie schreiben Briefe und Mails, weil’s hilft. Am laufenden Band bringt Amnesty Eilaktionen auf den Weg: Die Organisation veröffentlicht auf Basis von Recherchen Fälle wie jenen Aleksandra Skochilenkos, richtet Appelle an Staatsanwaltschaften, Botschaften, Regierungen und macht es Bürger/-innen denkbar einfach, sich diesen Appellen und Petitionen via Brief oder Mail oder Online-Formular anzuschließen. „Das wirkt“, sagt Barbara Erbe, und es wirkt umso mehr, je mehr Menschen sich beteiligen.

Flugzeug umgelenkt, um einen Journalisten festzusetzen

Roman Protasewitsch und seine Partnerin kamen nach einer von Amnesty initiierten Eilaktion aus der Haft frei. Der belarussische Journalist hatte friedliche Proteste gegen die umstrittene Präsidentschaftswahl im August 2020 in Belarus unterstützt, woraufhin ihm sein Heimatland Platz eins auf einer Terrorist/-innen-Liste zuwies. Als Roman Protasewitsch mit seiner Partnerin im Mai 2021 eine Flugreise antrat, fanden sich beide ganz plötzlich in Minsk wieder. Die belarussische Flugkontrolle hatte die Maschine umgeleitet und die Crew zur außerplanmäßigen Landung in Minsk gezwungen.

Der „Riesenunterschied“ zur von manchen so empfundenen eingeschränkten Meinungsfreiheit in Deutschland und der Situation in autokratischen Staaten wie Belarus ist der, dass Roman Protasewitsch Schwellungen im Gesicht hatte, als er am Tag nach seiner Festnahme in einem Video verkündete, er werde korrekt behandelt und sage nun aus zum Vorwurf, an „Massenstörungen“ beteiligt gewesen zu sein.

Schweigen aus Angst vor Repressalien

Wie hoch der Anteil jener in der russischen Bevölkerung ist, die gern viel mehr „Massenstörungen“ gegen den Krieg in der Ukraine auf den Weg bringen würden – das wüsste die ganze Welt gern. Niemand kann dazu eine sichere Aussage treffen, doch klar ist, je mehr Repressalien nicht nur drohen, sondern umgesetzt werden, desto mehr wächst das Schweigen. Für Amnesty-Leute ist es schon länger schleichend immer schwieriger geworden, Kontakt zu halten zu Menschen in Russland. Verbindungen sind gekappt, die Überwachungsmaschinerie läuft wie geschmiert, und selbst Russen, die in Deutschland leben, beißen in Gesprächen mit Verwandten zuhause auf Granit: „Glaub ich nicht“, heißt es dann, und man streitet, wessen Gedanken von welcher Propaganda durchseucht zu sein scheinen – „das zerreißt Familien“, sagt Barbara Erbe.

Die Frage, wie manipuliert und manipulierbar man selbst ist, wie man sich jetzt verhalten würde als Bürger/-in Russlands, ob man sich allen Ernstes wehren und Haft und Folter und Tod riskieren würde – diese Frage kann einen auch zerreißen, führt aber zu nichts. „Den Kopf in den Sand stecken, rettet wirklich niemanden“, meint Barbara Weckler lapidar, und „man kann nur danke sagen, dass man relativ gut hier in Deutschland lebt.“

Preisverleihung am 4. Dezember in der Künkelin-Halle Schorndorf

Danke sagen kann man – „und vielleicht vier wärmere Pullis kaufen.“ Wecklers Vorschlag bezieht sich auf die Frage, inwieweit Deutschland Nachteile in Kauf nehmen kann oder soll oder muss, damit für Energie aus Russland nicht mehr so viel Geld in ein Land fließt, das seinen Nachbarn überfallen hat und dessen Soldat/-innen täglich Menschen töten.

Zurück zum Thema freie Meinungsäußerung, denn darum geht’s in der Woche der Meinungsfreiheit und im täglichen Tun der Schorndorfer Palm-Stiftung. Den 11. Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit verleiht die Stiftung am Sonntag, 4. Dezember, in der Barbara-Künkelin-Halle in Schorndorf. Solche Preisverleihungen schaffen Öffentlichkeit „für die Arbeit dieser mutigen Menschen“ und können helfen, sie vor weiteren Übergriffen zu schützen, sagt Barbara Erbe.

Medienvielfalt fördert Meinungsfreiheit auf einer ganz anderen Ebene: Der Mensch braucht Infos. Auf welcher Basis sonst könnte er sich eine Meinung bilden. Barbara Erbe verweist vor diesem Hintergrund auf eine Studie, die diesen Zusammenhang belegt: Je mehr Menschen in einer Kommune Zeitung lesen, desto mehr Menschen setzen bei Kommunalwahlen ihr Kreuz.

Fake news und hate speech

Der Mensch braucht Infos – weshalb die Infos biegt, wer eine Einheitsmeinung zu erzeugen gedenkt. In autokratischen Staaten gibt’s keine freie Presse, das versteht sich von selbst. Weltweit sind unterdessen Info-Produzenten am Werk, die sich an einem Ziel orientieren und nicht an der Wahrheit, die ihren Frust und ihre Enttäuschung in Kaskaden von Beschimpfungen und Beleidigungen und Bedrohungen ins Netz ergießen. „Fake News“, den Begriff kennt mittlerweile jedes Kind, und „hate speech“ schafft es in naher Zukunft auch in diese Kategorie. Die Grenzen verlaufen fließend, was gut ist und schlecht zugleich: Man muss das meiste sagen dürfen, doch irgendwo hört’s auf. Was noch unter Meinungsfreiheit läuft und was nicht mehr, muss eine Gesellschaft dauernd neu austarieren; „das ist im Fluss“, sagt Barbara Weckler. Doch müsse die „Basis der Meinungsbildung“ gewährleistet sein. Um die Pressevielfalt war’s aber schon mal besser bestellt, und den Trend, dass Klickzahlen, also letztlich wirtschaftliche Interessen die Inhalte der Berichterstattung mitbestimmen, sieht Barbara Erbe mit Sorge.

Sie betreut den Twitter-Kanal für die Gruppe Meinungsfreiheit bei Amnesty. Die Plattform gehört womöglich bald dem Multimilliardär Elon Musk. Ob sie ihren account dann löscht, hat Erbe noch nicht entschieden, wenngleich eine „gewisse Ironie“ durchaus mitschwingt, wenn ein Mensch wie Musk sich als Retter der Meinungsfreiheit zu präsentieren sucht – und sie selbst mehr als einmal mit Füßen getreten hat.

Twitter noch nutzbar, wenn Elon Musk das Sagen hat?

Ob Amnesty International trotzdem weiter Twitter nutzt, wird man sehen; Barbara Weckler vertraut auf Rechercheteams der Organisation, die abchecken werden, ob das unter Musks Fuchtel noch geht oder nicht.

„Researcher“ heißen bei Amnesty jene Leute, die vor Ort Zeugen befragen, Gerichtsprozesse beobachten oder sich Zugang zu Gefängnissen verschaffen, um sich ein Bild zu machen über die Menschenrechtslage. Von der Qualität der Arbeit dieser Menschen hängt ab, wie ernst die Welt Amnesty nimmt, und zu dieser Arbeit gehört auch, den Blick möglichst unvoreingenommen in jeden Winkel zu richten. Noch vor dem Krieg hatte ausgerechnet die Ukraine von Amnesty ein nur mittelgutes Zeugnis erhalten, doch hätten die Researcher eine Reihe von Fortschritten festgestellt. „Ich will die Ukraine nicht vergolden, aber sie waren auf einem guten Weg zu mehr Menschenrechten und Demokratie“, fasst Barbara Erbe die Dinge zusammen. Russland sah die Fortschritte als Bedrohung.

Jetzt geht es in der Ukraine „ums nackte Überleben“, wie Barbara Weckler sagt. „Russische Invastion stoppen! Zivilbevölkerung in der Ukraine schützen!“ – diese Überschrift von Amnesty zu einem Aufruf, sich an einer E-Mail-Aktion zu beteiligen, mag naiv anmuten. Dennoch: Die Stimme erheben ist besser als nur zuschauen. „Die Kraft von Amnesty International beruht darauf, dass viele mitmachen.“

Sie entfernte Preisschilder auf Nudelpackungen und klebte Antikriegs-Slogans darauf. In St. Petersburg wagte die Künstlerin Aleksandra Skochilenko genau das, und jetzt sitzt sie in U-Haft. Während sie dort der Dinge harrt, die ihr noch drohen, beklagen Leute in Deutschland, man könne nicht mehr alles sagen.

Mit der Ungerechtigkeit in der Welt muss umgehen können, wer sich wie Barbara Erbe bei Amnesty International engagiert. Man wird dort mit der Nase draufgestoßen, wie Menschen

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