Die Impfstoff-Ungerechtigkeit: Im Kreisimpfzentrum Waiblingen gibt's so wenig, dass er fast ausgegangen wäre

Der Brief ist durchweg so höflich formuliert, wie man’s von Landrat Richard Sigel kennt. Doch man spürt’s brodeln – und zwar nicht nur zwischen den Zeilen. Landrat Richard Sigel hat ans Sozialministerium geschrieben. Und im ersten Satz schon das zentrale Empfinden benannt, das im Rems-Murr-Kreis für angehaltenen Atem bis rote Köpfe sorgt, sobald die Rede auf Impftermine kommt: „Viel Frust“.
Die Verteilung des Impfstoffs durch die Landesregierung, sagt Landrat Richard Sigel, sei für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Bei allen Rätseln aber, die sich hier auftun – eines ist offensichtlich: Es ist im Rems-Murr-Kreis viel zu wenig Impfstoff da.
„Viele frustrierte Rückmeldungen der Bürgerinnen und Bürger“
Und so ist die Verschnupftheit des Landrats nicht verwunderlich, wenn das Sozialministerium in einer Pressemitteilung die Abarbeitung der Wartelisten feiert, auf denen sich die Impfwilligen seit Wochen sammeln. Denn im Rems-Murr-Kreis ist die Realität eine andere: Die Tage, in denen die Impfung mit Astrazeneca von der Bundesregierung gestoppt wurden, können hier nicht, wie das Sozialministerium verkündet hat, „spätestens bis Ende März“ nachgeholt werden. Sondern die Termine mussten in die dritte Aprilwoche geschoben werden. Landrat Richard Sigel schreibt an Sozialminister Manfred Lucha über „viele frustrierte Rückmeldungen der Bürgerinnen und Bürger“.
Der Grund für diese lange Wartezeit: Der Impfstoff, mit dem die Leute, die im Waiblinger Kreisimpfzentrum ihre Termine an den drei vom Impfverbot betroffenen Tagen, 16. bis 18. März, gehabt hätten, ist jetzt nicht übrig und wartet nicht in den Kühlschränken auf seine Impflinge.
Der Grund dafür: die Liefermenge. Die zugesicherte durchschnittliche Menge von Astrazeneca beträgt 1600 Impfdosen pro Woche. Allerdings ist dieser Durchschnitt höchst ungleichmäßig auf die Wochen verteilt: In dieser Woche kamen 500 Impfdosen, für nächste Woche sind 500 Dosen angekündigt, übernächste soll’s dann aber 4000 geben.
Das heißt: Wenn die Leute, die an den Impfverbotstagen hätten kommen sollen, wirklich geimpft worden wären, dann hätte der Impfstoff für die Menschen, die in den Tagen darauf ihren Termin gehabt haben, nicht mehr gereicht, weil die Lieferung zu klein war. Kurz: Hätte es den Impfstopp nicht gegeben, heißt es aus dem Landratsamt, „wären wir ins Leere gelaufen“.
In Nachbarlandkreisen sind mehrere Tausend Impfdosen übrig und werden verteilt
Dies im Hinterkopf, wundert sich Landrat Richard Sigel über Folgendes und schreibt ans Sozialministerium: „Dazu passt auch nicht, dass ich gleichzeitig von Nachbarlandkreisen erfahre, dass dort aktuell mehrere Tausend Impfdosen übrig sind und in Sonderaktionen an Hausärzte vergeben werden.“
Peter Höschele ist ein Hausarzt. Allerdings hat er seine Praxis im Rems-Murr-Kreis. In Rudersberg. Von Sonderaktionen kann er nur träumen. Bis Donnerstag hieß es, er solle für seine Praxis die inzwischen berühmt gewordenen 20 Impfdosen pro Woche und ab April bekommen. Vielmehr: Tatsächlich sind es nur 18 Impfdosen, sagt Höschele. Denn pro Fläschchen könne der Arzt sechsmal impfen – drei Fläschchen also hätte er bekommen. In Höschele brodelte es. Er habe allein 150 Leute, die nicht mehr in die Praxis kommen können und stets per Hausbesuch betreut werden. Es hätte fast zehn Wochen gedauert, diese Patienten zu impfen. An alle anderen Patienten wäre bei dieser Menge überhaupt nicht zu denken gewesen.
Inzwischen hat sich Höschele wieder etwas entspannt: Denn aktuell kam die Info, dass es 18 Impfdosen pro Arzt sind, die verteilt werden sollen. In Höscheles Gemeinschaftspraxis arbeiten fünf Ärzte – ergibt 90 Impfdosen pro Monat. Damit, meint er, könne man hinkommen.
Allerdings ist sich Höschele noch längst nicht sicher, dass er den Impfstoff erhält. Er muss ganz wie immer in der Apotheke bestellen. Die Apotheke wird ihm nach der Bestellung mitteilen, wie viel er tatsächlich bekommt. Es heiße, sagt er, die Ärzte bekämen, was in den Impfzentren übrig sei. „Da ist ja aber nix übrig!“
Der Ursprung der Ungerechtigkeit: Entscheidungen der Landesregierung
Der Landrat schreibt in seinem Brief von „landesweiten Ungerechtigkeiten“. Der Ursprung der Ungerechtigkeit liegt in der Entscheidung der Landesregierung, nur den sechs bevölkerungsreichsten Landkreisen zwei Kreisimpfzentren zuzugestehen. Der Rems-Murr-Kreis liegt an siebter Stelle und bekam somit nur eines.
Und der Ursprung der Ungerechtigkeit liegt in der Entscheidung der Landesregierung, den Impfstoff nicht der Anzahl der Einwohner entsprechend zu verteilen, sondern entsprechend der Anzahl der Impfzentren.
Und so könnten zwar, sagt Sigel, im Waiblinger Kreisimpfzentrum die Kapazitäten verdoppelt werden. Es gäbe genug Personal. Doch es fehlt am Material.
„Es fehlt“, sagt Richard Sigel, „der Blick auf die Menschenanzahl“. Im Rems-Murr-Kreis – ein Kreisimpfzentrum, leben über 420 000 Menschen. Im Hohenlohe-Kreis zum Beispiel leben rund 112 000 Einwohner. Dort gibt es auch ein Kreisimpfzentrum. Beide Kreise bekommen genau gleich viel Impfstoff.
Interessant ist: Laut Sigel verteilt der Bund den Impfstoff auf die Länder gemäß der Bevölkerungsanzahl. Das Land Baden-Württemberg macht’s halt anders.
Richard Sigel hätte jetzt sehr gerne ein paar Zahlen: Wie viele Menschen sind in welchem Landkreis schon geimpft? Hätte man diese Zahlen, sagt Sigel, könnte man das Verhältnis von Geimpften zur Bevölkerungsanzahl errechnen. Dann wäre die „Unwucht“ des Systems zu erkennen und „dann könnte man nachsteuern. Aber wir kriegen die Zahl nicht.“
Das Sozialministerium im Übrigen, hat auf den Brief hin, in dem Richard Sigel um eine „pragmatische Lösung vor Ostern“ und um eine „entsprechende Charge Astrazeneca“ bittet, nicht mehr Impfdosen gen Waiblingen geschickt. Nein, man hätte sich, sagt Sigel, „noch nicht mal geregt“.