Dramatische Lage in Kinderarzt-Praxen: "Debakel hat die Politik zu verantworten"

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) hat am Montag (28.11.) vor einer dramatischen Lage in der Kinder- und Jugendmedizin gewarnt. Der Verband macht in einer Pressemitteilung die Politik dafür verantwortlich. Wo laut Verband die zentralen Probleme liegen – und wie sich die Lage im Rems-Murr-Kreis darstellt.
RSV-Welle: Nicht die zentrale Ursache für Überlastung
„Die Situation der Kinderkliniken und vor allem der ambulanten Kinder- und Jugendarztpraxen in Deutschland ist dramatisch“, schreibt der BVKJ in seiner Pressemitteilung. Kranke Kinder würden in Kliniken wegen Überbelegung abgewiesen, Kinderarztpraxen würden Aufnahmestopps verhängen. Ein Grund dafür sei die starke Ausbreitung des RSV-Virus, ein anderer die Zunahme schwerer Atemwegsinfekte.
„Die Infektwelle ist aber nicht der eigentliche Grund für die dramatische Lage", so Jakob Maske, Bundespressesprecher des BVKJ: „Das Debakel hat die Politik zu verantworten, die seit Jahren die Pädiatrie [= Kinder- und Jugendmedizin, Anm. d. Red.] finanziell aushungert, uns aber gleichzeitig immer mehr Aufgaben aufbürdet.“
Wie stellt sich dieses „Debakel“ für die Kinderärzte aus Sicht des Verbands konkret dar? Eine Übersicht.
Erstens: Zahl der Patienten steigt
Die Kinderarztpraxen sehen sich laut BVKJ einer zunehmenden Zahl von Patienten gegenüber. In den letzten Jahren gab es im Schnitt wieder mehr Geburten als in den Jahren zuvor. Dazu käme eine steigende Zahl von Kindern, die mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet sind. Und auch die Situation in den Kinderkliniken spiele eine Rolle, so der Verband.
„80 Prozent der Kliniken mussten in den letzten Jahren die Zahl ihrer Betten reduzieren, sogar im Intensivbereich.“ Schwere und chronisch kranke Kinder und Jugendliche, die in den Kliniken keinen Platz finden, müssten daher in den Praxen mitversorgt werden.
Zweitens: Zeitaufwand steigt, Lohn aber kaum
Zur steigenden Zahl der Patienten komme auch ein steigender Zeitaufwand, so der Verband. Neben Infektionskrankheiten hätten es Kinderärzte mit Problemen wie Übergewicht und sozial bedingten Entwicklungsstörungen zu tun, die viel Beratung erfordern. „Wir arbeiten durchschnittlich weit über 50 Stunden pro Woche“, schreibt der Kinderärzte-Verband.
Der Lohn bleibe dafür aber aus – nicht nur in finanzieller Hinsicht. „Lange und stressige Arbeitstage bei fehlenden finanziellen Anreizen und damit auch fehlender gesellschaftlicher Wertschätzung führen heute schon dazu, dass wir keine Nachfolger:innen mehr für freie Praxissitze finden.“
Ein Problem, dass sich wohl noch verschärfen wird. "Es fehlen deutschlandweit weit über hundert Kinderärzte und der durchschnittliche Kinderarzt ist Ende 50 Jahre alt“, sagte Dr. Ralf Brügel, Sprecher der Kinderärzte im Rems-Murr-Kreis, vergangene Woche gegenüber unserer Redaktion. Der BVKJ schreibt, dass „etwa ein Drittel“ der Kinder- und Jugendärzte in den nächsten fünf Jahren in Rente gehen wird.
Drittens: Energie-Krise trifft auch die Arztpraxen
Zu fehlendem Personal, den vielen Patienten, steigendem Zeitaufwand und zu geringem Lohn hat sich dem Verband zufolge zuletzt ein weiteres Problem aufgetan: Die Kosten, die eine Praxis verursacht, würden „rasant“ steigen. „Allein die steigenden Energiepreise belasten uns überdurchschnittlich“, heißt es in der aktuellen Pressemitteilung. „Anders als in öffentlichen Gebäuden können wir zum Beispiel kaum die Raumtemperaturen absenken, weil wir Neugeborene und kranke Kinder nicht frieren lassen können.“
Wie ist die Lage im Rems-Murr-Kreis?
Die Situation ist auch im Rems-Murr-Kreis angespannt. Dr. Ralf Brügel sprach uns gegenüber zuletzt von einer „katastrophalen“ Versorgung der Kinder- und Jugendlichen. "Aus meiner Sicht hat sich die Situation in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert“, so der Kinderärzte-Sprecher. "Manchmal müssen wir in Akutfällen drei Kliniken anrufen, etwa um ein Kind mit einer akuten Blinddarm-Entzündung unterzubringen." Termine bei ambulanten Spezialisten seien mit langen Wartezeiten verbunden.
In der Kinder- und Jugendmedizin am Rems-Murr-Klinikum Winnenden ist die Lage offenbar etwas weniger dramatisch. Doch auch hier machen eine starke Infektionswelle und Personalmangel den Teams auf der Kinderklinik zu schaffen. Platz sei zwar prinzipiell vorhanden, doch manchmal könne die Unterbringung eines Patienten etwas dauern. „Ich bitte Eltern um Nachsicht mit den Teams, die versuchen, alles möglich zu machen“, sagte Chefarzt Prof. Dr. Ralf Rauch am Montag (28.11.) im Gespräch mit unserer Redaktion.
„Beleuchtet diesen Skandal“: Was der Verband jetzt fordert
Dr. Rauch nannte im Gespräch die Unterfinanzierung als einen der Gründe für die aktuelle Situation. „Kinder haben in der Politik offenbar keine Lobby und die Kinder- und Jugendmedizin hat es damit auch nicht“, schreibt der Kinderärzte-Verband dazu. „Die derzeitige dramatische Situation beleuchtet diesen Skandal.“ Es sei höchste Zeit, dass die Politik umsteuere.
Aber wie soll das aus Sicht des BVKJ aussehen? In seiner aktuellen Pressemitteilung fordert der Verband mehr Studienplätze für Medizin. Aber die jungen Ärzte, die sich niederlassen wollen, bräuchten auch eine Perspektive. Weitere Klinikbetten würden ebenfalls benötigt. „Und zwar schnell, denn Kinder und Jugendliche warten nicht mit dem Krankwerden.“