Rems-Murr-Kreis

Vor dreisten Sprüchen schreckten Politiker nie zurück: Wahlen im Rückblick

Landtagswahlkorb
Symbolbild. © Gaby Schneider

Ein bisschen fies ist das schon, denn hinterher ist jede(r) immer schlauer: Was Politiker vor Jahren und Jahrzehnten vor und nach Wahlen so alles von sich gegeben haben, trägt heute zur Erheiterung bei oder führt zu unerwarteten Erkenntnissen – kommt drauf an, wie man’s sieht. In jedem Fall verschwindet für lange Zeit, wer den Abstieg in den dunklen Keller zum Zeitungsarchiv wagt: Man kann gar nicht mehr aufhören, in den alten Bänden zu blättern, sich zu wundern und zu staunen.

„Eine bittere Niederlage, wie wir es in diesem Ausmaß nicht erwartet haben“: Diese Aussage fiel am Wahlabend vor 23 Jahren. Dr. Paul Laufs (CDU) hatte zwar erneut das Direktmandat im Wahlkreis Waiblingen geholt, allerdings nur knapp: So eng auf den Fersen war ihm sein Herausforderer von der SPD, Hermann Scheer, nie gewesen. Im Bund war es in jenem Jahr zu einem Regierungswechsel gekommen: Eine rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder löste die Koalition von CDU/CSU und FDP unter Helmut Kohl nach 16 Jahren ab.

Von einem „klaren Votum des Wählers“, das „wir mit Demut tragen werden“, sprach Paul Laufs an jenem Wahlabend Ende September 1998: In die Opposition zu gehen, sei „besser als eine große Koalition, in der sich zwei starke Partner blockieren. Jetzt herrschen klare Verhältnisse, sollen die doch die Atomkraftwerke abstellen und neue Steuern einführen.“

Es kam dann anders, wie man heute weiß.

Trotzreaktion: 1998 litt die CDU

Regelrecht trotzig reagierte ein anderer CDU-Politiker aus dem Kreis an jenem schicksalhaften Wahlabend ‘98: „Den ganzen Abend fragen die Journalisten die Politiker, wo sie Fehler gemacht haben. Im Zweifelsfall hat das Volk den Fehler gemacht“, klagte Paul Hug, damals Winnender Bürgermeister und CDU-Kreistagsfraktionsvorsitzender. Paul Laufs’ Fazit fiel seinerzeit versöhnlicher aus: „Es kommen auch wieder andere Zeiten für die CDU.“

Nicht nur für die CDU sind jetzt tatsächlich andere Zeiten gekommen, und wer diesen Sonntagabend gelassen bleibt, wenn die ersten Hochrechnungen eintrudeln – der langweilt sich vermutlich auch bei der wildesten Netflix-Thriller-Serie, welche auch immer das ist.

Rückblicke eröffnen neue Einsichten – weil einem die momentane Lage der Dinge in anderem Licht erscheint. Alfonso Fazio, seinerzeit bei der Wahlparty ‘98 in den Räumen des Zeitungsverlags Waiblingen nach seiner Sicht der Dinge befragt, bekundete Freude, „dass keine rechte Partei reingekommen ist.“ Die Dinge haben sich gewaltig verändert: Die AfD sitzt fest im Sattel und brachte es im Rems-Murr-Kreis 2017 auf fast 13 Prozent.

Die Archiv-Wühl-Freude ist erwacht, und jetzt sind die Finger vom Umblättern der alten Zeitungsseiten eh schon verschmutzt: Also her mit dem noch staubigeren Band aus dem Jahre 1969. Wie haben sie die Dinge seinerzeit betrachtet, als im Rems-Murr-Kreis eintrat, was dort nur dreimal seit 1949 geschehen ist? – Die SPD lag beim Erststimmenergebnis in den Jahren 1961, 1969 und 1972 vor der CDU.

"Wir haben sie" - die "richtigen Männer"

„Wählen Sie am Sonntag die richtigen Männer“, schrieb die SPD 1969 in einer ganzseitigen Zeitungsanzeige, und auf einem der Fotos raucht Herbert Wehner Pfeife. „Wir haben sie“, stand ferner dort zu lesen, und das war nicht auf die Pfeife bezogen, sondern auf die Männer.

Im damaligen Kreis Waiblingen errang der SPD-Kandidat Manfred Wende 1969 die meisten Erststimmen und damit das Direktmandat. Der 41-jährige Rundfunkjournalist stieß den CDU-Abgeordneten und Landwirt Friedrich Fritz vom Thron, der 1969 bereits zum fünften Mal für den Bundestag kandidiert hatte. Fritz’ „grundkonservative Einstellung wurde von den Wählern im Kreis Waiblingen nicht mehr honoriert, weil sie zudem mit wenig Geschick und mit wenig Fingerspitzengefühl ‘verkauft’ wurde“, hatte der damalige Redaktionsleiter Richard Retter kommentiert. Friedrich Fritz erwies sich denn auch als denkbar schlechter Verlierer: „Nach der Hetze, die in den vergangenen Wochen gegen mich betrieben wurde, kann ich nur sagen, viele Hunde sind des Hasen Tod“, wird der damals 63-Jährige in der Waiblinger Kreiszeitung zitiert. „Nachher“ werde er dem „neugewählten Mann“ gratulieren. Ansonsten werde er sich fortan um seinen Beruf kümmern „und alles andere weitgehendst abschreiben.“

Von einem „Linksruck“ war indes nach der Wahl in Verbindung mit einer Partei die Rede, der man Verschiebungen nach links nicht an erster Stelle vorzuwerfen geneigt ist: Die FDP hatte 1969 ihr Zweitstimmenergebnis nahezu halbiert und musste sich mit 10,8 Prozent zufriedengeben – dem mit großem Abstand schlechtesten Ergebnis der Liberalen im Kreis Waiblingen seit 1949. FDP-Kandidat Rolf Sandbiller gab die Niederlage seinerzeit unumwunden zu; was blieb ihm auch anderes übrig: Viele FDP-Wähler seien zu anderen Parteien abgewandert, ohne dass es gelungen wäre, neue Wählerschichten zu erschließen, analysierte der Kandidat messerscharf. Die Ursache fürs Abrutschen seiner Partei sah Sandbiller darin, „dass unsere moderne Linie wohl weitgehend als Linksruck verstanden worden ist.“

Sekt, Wein - oder Apfelsaft?

Ob er mit Sekt oder Wein seinen Erfolg feiere, mit dieser Journalisten-Frage sah sich unterdessen Sieger Manfred Wende von der SPD am Abend des 28. September 1969 konfrontiert. Wendes Antwort: „Nein. Wir sitzen hier bei den Produkten des Landes. Es ist hier eine sehr, sehr nette Runde.“

Wein gab’s damals offenbar im Remstal noch nicht (das war ein Witz!). Also muss es Apfelsaft gewesen sein.

Zeitsprung: Wir knöpfen uns das Jahr 2005 vor. Seinerzeit errang der CDU-Politiker Dr. Joachim Pfeiffer bereits zum zweiten Mal das Direktmandat im Wahlkreis Waiblingen. Seinen Konkurrenten Dr. Hermann Scheer von der SPD hatte er vor der Wahl mehr als nur keck dem „Volkssturm der Alt-68er“ zugeordnet. Die Empörung ebbte schnell wieder ab, und die Wähler/-innen nahmen es dem Christdemokraten nicht merkbar übel: Pfeiffer steigerte sein Erststimmenergebnis um fast zwei Prozentpunkte auf knapp 47 Prozent. Die Linke und die FDP gingen jeweils mit klarem Plus aus der Wahl hervor, und Hartfrid Wolff zog für die FDP neu in den Bundestag ein.

2017: Minus für CDU und SPD

Seinerzeit schafften es aus dem Rems-Murr-Kreis fünf Abgeordnete in den Bundestag – und sie konnten sich mehrheitlich nicht leiden. Scheer und Pfeiffer hatten sich eh schon nichts mehr zu sagen, und die beiden Abgeordneten der CDU und der SPD aus dem Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd, Norbert Barthle und Christian Lange, galten auch damals schon gelinde gesagt nicht als die besten Kumpels.

„CDU und SPD verlieren dramatisch“, titelte diese Zeitung dann nach der Wahl am 24. September 2017: Joachim Pfeiffer rutschte auf ein Erststimmenergebnis von knapp 37 Prozent ab. Schlechter hatte die CDU im Wahlkreis Waiblingen zuletzt 1961 abgeschnitten. SPD-Kandidatin Sybille Mack erreichte gut 19 Prozent bei den Erststimmen – ein Minus von knapp vier Punkten. Wahrhaft durch die Decke ging das Erststimmen-Ergebnis der FDP-Kandidatin Lisa Walter: 13,36 Prozent der Erststimmen – das beste Erststimmenergebnis für die FDP seit 1965 im Wahlkreis Waiblingen. In den Bundestag zog Lisa Walter seinerzeit nicht ein: Dafür hätte sie einen attraktiveren Platz auf der Landesliste benötigt.

Auf der Landesliste der AfD weiter nach hinten gerutscht

Einen solchen konnte 2017 Jürgen Braun von der AfD für sich verbuchen: Auf Platz sechs der Landesliste hatte ihn seine Partei 2017 gesetzt, und das reichte für Brauns Einzug in den Bundestag. Vor vier Jahren analysierte der Kabarettist Christoph Sonntag nach der Wahl: 60 Prozent der AfD-Wähler hätten nur den anderen Parteien eins auswischen wollen und seien nicht daran interessiert, dass diese Partei ihr Programm umsetze: „Das macht mir bei allem Schreck immer noch recht Hoffnung.“

Jürgen Braun von der AfD ist auf der Landesliste nach hinten gerutscht und belegt jetzt Platz zehn. Er ist bei der Bundestagswahl am kommenden Sonntag der einzige Kandidat aus dem Wahlkreis Waiblingen, der bereits ein Abgeordnetenmandat besitzt. Alle anderen Kandidat/-innen versuchen zum ersten Mal ihr Glück: Urs Abelein für die SPD, Anne Kowatsch kandidiert für die Grünen, Prof. Stephan Seiter für die FDP, Luigi Pantisano für die Linken.

Ganz besonders die CDU-Kandidatin Christina Stumpp steht nach Joachim Pfeiffers Paukenschlag-Rückzug im Fokus. Pfeiffer hatte im April dieses Jahres seinen Rückzug verkündet – nachdem ihm von vielen Seiten vorgeworfen worden war, er trenne private Interessen als Unternehmer und Mandat nicht sauber und es zu einem Hackerangriff gekommen war.

Zeitenwende: Landtagswahl mit Überraschungen

Pfeiffer hat im Wahlkreis Waiblingen fünfmal das Direktmandat geholt. Bei 14 von 19 Bundestagswahlen seit 1949 sicherte sich der jeweilige CDU-Kandidat in diesem Wahlkreis das Direktmandat. Ob die 33-jährige Hegnacherin Christina Stumpp die Tradition fortsetzen kann, wird man sehen. Bei der Landtagswahl im März 2021 haben die Grünen in allen drei Wahlkreisen die Direktmandate errungen – eine Zeitenwende, denn das gab’s noch nie.

Wie es auch immer ausgehen wird – ein Kommentar dieser Zeitung zur Wahl 2005 klingt heute so aktuell wie damals, denn dort heißt es: „Eine Demokratie lebt vom Respekt, den Vertreter unterschiedlicher Meinungen und Weltanschauungen voreinander haben. Vor und nach einer Wahl.“

Ein bisschen fies ist das schon, denn hinterher ist jede(r) immer schlauer: Was Politiker vor Jahren und Jahrzehnten vor und nach Wahlen so alles von sich gegeben haben, trägt heute zur Erheiterung bei oder führt zu unerwarteten Erkenntnissen – kommt drauf an, wie man’s sieht. In jedem Fall verschwindet für lange Zeit, wer den Abstieg in den dunklen Keller zum Zeitungsarchiv wagt: Man kann gar nicht mehr aufhören, in den alten Bänden zu blättern, sich zu wundern und zu staunen.

„Eine

Alle Abos jederzeit kündbar:
ZVW+ MONATLICH
Erster Monat gratis, danach 6,99 €/mtl.
ZVW+ JÄHRLICH
Statt 83,88 € (Zwei Monate gratis)
ZVW+ JÄHRLICH mit ePaper
mit täglichem Zugriff zum ePaper