Nach Tod eines Fußgängers: Ringen ums Strafmaß
Kaisersbach/Stuttgart. Ein Betrunkener liegt nachts nach dem Sandlandfest mitten auf der Straße, wird überfahren und stirbt. Der junge Unglücksfahrer erfährt diesen Donnerstag, welche Sühne das Landgericht für angemessen hält. Staatsanwaltschaft und Verteidiger könnten in ihrer Einschätzung von Schuld und Sühne kaum weiter voneinander entfernt liegen. Die Angehörigen des Toten zeigen sich ganz unabhängig vom Urteil bereits jetzt enttäuscht.
Der 20-jährige Angeklagte nutzte am fünften Verhandlungstag vor dem Stuttgarter Landgericht sein Recht aufs letzte Wort: „Unvorstellbar leid“ tue ihm, was passsiert sei: „Es gibt keine Worte, die meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen würden.“
Der Verteidiger plädiert auf eine Bewährungsstrafe
Vier Jahre möchte der Staatsanwalt den jungen Mann im Gefängnis sehen. Seine Verteidiger plädieren auf eine Bewährungsstrafe, das bedeutet: Maximal zwei Jahre, zur Bewährung ausgesetzt.
Wegen eines Bündels an Vorwürfen muss sich der junge Mann verantworten; der schwerwiegendste: Versuchter Mord. Nach dem „Rumpler“ auf der Landstraße kurz nach dem Schillinghof ist der junge Mann zunächst einfach weitergefahren. Als er kurz darauf anhielt, war das Unfallopfer vielleicht schon verblutet. Niemand hätte ihm mehr helfen können.
Deshalb lautet die Anklage auf „versuchten“ Mord. Das Unfallopfer, das nach dem Sandlandfest zu Fuß auf dem Nachhauseweg gewesen war, ist nicht deshalb gestorben, weil ihm niemand geholfen hat. Seine Verletzungen waren so schwerwiegend, dass jeder Rettungsversuch missglückt wäre.
Damit Juristen eine Tat wie diese als versuchten Mord betrachten, müssen noch einige andere Kriterien erfüllt sein – so zynisch das jetzt klingt.
Suche nach der Wahrheit
Der Staatsanwalt geht in diesem Verfahren davon aus, dass der Vorwurf des versuchten Mordes zu Recht erhoben ist. Die wichtigste Frage beantwortet der Staatsanwalt mit einem klaren Ja: Der Angeklagte hat seiner Überzeugung nach sehr wohl gewusst, dass er weder einen Ast noch einen Fuchs, sondern einen Menschen überfahren hat.
Er setzte seine Fahrt fort – wohl wissend, es könnte jemand sterben. Die Sorge um seinen Führerschein überwog, denn der junge Mann hatte getrunken, Joints geraucht und eine weitere Substanz im Blut. Von „Verdunkelungsabsicht“ getrieben, nahm er den Tod eines Menschen in Kauf – so sieht der Staatsanwalt den Fall.
Leicht gemacht hat er sich sein Plädoyer nicht. Weit mehr als eine Stunde lang erläuterte er seine Sicht, verglich den Unfall mit anderen, zog frühere Urteile heran, verwies auf juristische Kommentare. Sein Fazit – glasklar: Der Angeklagte hat sich des versuchten Mordes durch Unterlassen sowie der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht.
Staatsanwalt hält Erinnerungslücken nicht für glaubhaft
Die Verweise des Angeklagten auf Erinnerungslücken hält der Staatsanwalt für nicht glaubhaft. Allerdings sei zu Gunsten des 20-Jährigen zu werten, dass er wegen des Alkohols und wegen der Drogen das Unrecht der Tat nicht im vollen Ausmaß erkennen konnte.
Bei der Polizei hatte der 20-Jährige am 8. Juli 2017 wenige Stunden nach dem tödlichen Unfall eingeräumt, ihm sei sehr wohl klar gewesen, einen Menschen überfahren zu haben.
Diese Aussage sehen seine beiden Verteidiger nicht als Spiegel der Wahrheit. Ob sich zwischen zwei Vernehmungen Erinnerungen mit Informationen von außen vermischt haben, in einem übermüdeten, noch immer von Alkohol und Drogen beeinflussten Gehirn? Warum schwört der junge Mann kurz darauf seinem Freund, er habe wirklich gedacht, er sei über einen Ast gefahren?
Und das Kennzeichen?
Ein weiteres Argument der Verteidiger: Wie könnte jemand, der einen Unfall vertuschen will, allen Ernstes sein Kennzeichen am Tatort zurücklassen? Der Angeklagte und seine Mitfahrer hatten, nachdem sie circa 200 Meter vom Unfallort entfernt angehalten hatten, bemerkt: Ein Kennzeichen fehlt. Kostet 15 Euro, sei’s drum, dachten sich die jungen Männer und beschlossen: Wir fahren weiter. Von ihrem Standort aus konnten sie nicht sehen, dass ganz in der Nähe jemand lag und verblutete.
Kurz darauf traf die Polizei den Unglücksfahrer zuhause im Bett an. Er schlief so fest, dass die Beamten Mühe hatten, ihn wach zu kriegen.
Die Eltern des Getöteten zeigten sich als Nebenkläger enttäuscht vom Prozess. Sie hatten sich erhofft, der Angeklagte möge zu seiner Verantwortung stehen, ließen sie über ihren Anwalt Jens Rabe mitteilen. Schließlich ergriff die Mutter des Unfallopfers persönlich das Wort: Es hätte sich im Prozess mehr aufklären lassen können, sagte sie enttäuscht: „Jeder macht Fehler. Aber man muss dazu stehen.“
Jugendstrafrecht anwenden
Einigkeit herrschte bei allen Beteiligten darüber, dass der Angeklagte noch nach Jugendstrafrecht verurteilt werden sollte. Wenige Tage vor dem Unfall hatte er seinen 20. Geburtstag gefeiert. Seine Familie steht hinter ihm, sein Ausbildungsbetrieb hat ihm fest zugesagt, trotz allem die Lehre fortsetzen zu können, und in der Berufsschule haben sie ihm einen Platz freigehalten: Als „unauffälligen jungen Mann“, „noch ungefestigt, noch prägbar“ beschrieb die Jugendgerichtshelferin den Angeklagten am Dienstag: „Er zeigt erhebliche Schuldgefühle. Er setzt sich mit der Tat auseinander.“
Am Donnerstag dieser Woche entscheidet sich kurz nach Mittag, ob der Angeklagte wie an allen Prozesstagen zuvor den Gerichtssaal wieder in Handschellen verlässt – oder mit seinen Eltern nach Hause fahren kann.
Mitschuld
- Der Angeklagte war den Erkenntnissen zufolge mit einer Geschwindigkeit zwischen 60 und 80 km/h unterwegs gewesen, als der Unfall geschah. Erlaubt waren dort 100.
- Aus Sicht des Staatsanwalts war das Opfer auf der Straße zu sehen gewesen, auch bei Abblendlicht und trotz Kurve.
- Wäre der 20-Jährige knapp unter 50 km/h gefahren, hätte er noch anhalten können, hieß es im Gutachten.
- Das Todesopfer trägt aus Sicht Beteiligter eine Mitschuld: Der junge Mann lag nachts in betrunkenem Zustand mitten auf der Straße. Allerdings ist laut Staatsanwalt „das Gewicht des Mitverschuldens nicht sehr hoch einzuschätzen“. Die Verteidigung sieht ein „ganz erhebliches Mitverschulden“ des Unfallopfers.
- Der Körper auf der Straße sei „schwer erkennbar“ gewesen, so einer der beiden Verteidiger des Angeklagten: „Auch ein nüchterner Fahrer hätte den Unfall nicht verhindert.“
- Vier Jahre Haft, wie vom Staatsanwalt beantragt, hält die Verteidigung für „sehr drakonisch“.
- Die Anwälte des Angeklagten plädieren für eine Bewährungsstrafe.
Unsere Berichterstattung zum Fall können Sie hier noch einmal nachlesen:
08.07.2017: Fußgänger tödlich verletzt - Unfallfahrer ermittelt
11.07.2017: Fußgänger tot: Fahrer war alkoholisiert
03.11.2017: Ein Leben lang schuldig
Sieben Monate später beginnt der Prozess gegen den 20-jährigen Angeklagten
07.02.2018: Fußgänger totgefahren: Prozess beginnt
07.02.2018: Fußgänger totgefahren: Angeklagter erinnert sich nicht
19.02.2018: Nach Tod eines Fußgängers: Zeugen mit Gedächtnislücken
28.02.2018: Schuldfähig oder nicht - das bleibt die Frage
01.03.2018: Viel zu viel Alkohol: Keiner erinnert sich