Auf dem Weg in die smarte Diktatur
Schorndorf. Allgegenwärtige Smartphones, selbstfahrende Autos oder Tablets im Schulunterricht: Die Digitalisierung verändert viele Lebensbereiche des Menschen. Über die Folgen werde viel zu wenig geredet, findet Peter Hensinger. Bei einem Vortrag am Mittwoch in der Künkelinhalle zeichnete er ein düsteres Bild der Zukunft: Wenn der Entwicklung nicht Einhalt geboten werde, drohe eine smarte Diktatur.
So unheilvoll auch klang, was Hensinger im Fritz-Abele-Saal zu sagen hatte: Um einen Verschwörungstheoretiker handelt es sich bei dem von Attac eingeladenen Referenten keineswegs. Seine Kritik an den Folgen der allumfassenden Vernetzung ist hart, aber dennoch sachlich. Der Stuttgarter ist Vorstandsmitglied von Diagnose Funk, einer mobilfunk-kritischen Organisation, aktiv im BUND sowie im linksökologischen Bündnis Stuttgart-Ökologisch-Sozial. Einen „unermüdlichen Kämpfer gegen die Entmenschlichung der Gesellschaft“, nannte ihn Eva-Maria Gideon von Attac in ihren einleitenden Worten.
Strahlenbelastung durch Mobilfunk ist eine Gefahr für die Gesundheit
Ein Smartphone besitzt Hensinger wohlweislich nicht. Für zu groß hält er die damit verbundenen Gefahren. Hensinger sieht Auswirkungen vor allem in drei Bereichen: Die verstärkte Strahlenbelastung sei erstens schlecht für die Gesundheit. Den Mobilfunk bezeichnet er gar als „Asbest des 21. Jahrhunderts“. 2011 habe die Weltgesundheitsorganisation diesen als „möglicherweise krebserregend“ eingeschätzt. Nicht umsonst würden sich die Hersteller in den Gebrauchsanweisungen juristisch absichern, indem sie im Kleingedruckten davor warnen, die Geräte körpernah zu benutzen.
Schule ohne Lehrer, dafür mit Tablets – wer soll davon profitieren?
Die von der Bundesregierung forcierte digitale Bildung solle zweitens die digitalen Medien zum zentralen Erziehungsinstrument machen. Fünf Milliarden Euro stellt Bundesbildungsministerin Johanna Wanka dafür gerade zur Verfügung. Die Schulen des Landes, so die Begründung, sollen mehr Tablets einsetzen, um die Medienkompetenz der Schüler zu verbessern. Dabei, so Hensinger, gehe es aber gerade nicht darum, digitale Endgeräte als Hilfsmittel einzusetzen. Dahinter verberge sich vielmehr eine Neuausrichtung des Erziehungswesens. Digitale Medien sollen mittelfristig die Erziehung übernehmen. Die Vision: eine Schule ohne Lehrer, in der Algorithmen lehren und bewerten. Das sei beileibe keine ferne Dystopie. An diesem Mittwoch wurde in Saarbrücken die erste „Smart School“ Deutschlands eröffnet. Profitieren werde von solchen Konzepten am Ende vor allem die Industrie, meint Hensinger.
Von jedem Nutzer gebe es heute einen Datenzwilling
Der Begriff „digitale Bildung“ verschleiere nur ihre Verwertungs- und Konsuminteressen. Ein nennenswerter Nutzen für die Schüler sei hingegen nicht zu erkennen. Der flächendeckende, frühe Einsatz digitaler Technologie habe vielmehr fatale Konsequenzen: Konzentrationsschwäche, Verhaltensauffälligkeiten, Bewegungsdefizite bei Grundschülern hätten in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Die Ursache würden einer DAK-Studie zufolge 91 Prozent der befragten Lehrer in der medialen Reizüberflutung sehen. Es brauche darum gerade weniger Medieneinsatz – in der Schule wie zu Hause.
Die Industrie hingegen bekomme durch die allumfassende Digitalisierung zunehmend gläserne Konsumenten. Das Smartphone sei längst zum Hauptinstrument der Förderung des Hyperkonsums geworden. Von jedem Nutzer gebe es heute einen Datenzwilling. „Das Daten-Ich wird zum Avatar, zum lebenslangen Über-Ich“. In letzter Konsequenz werde der Mensch dabei immer stärker von der Natur entfremdet. Auch kreative Langeweile oder Sinnieren, oft eine Quelle neuer Ideen, finde kaum mehr statt. „Digitale Bildung“, so Hensingers ernüchterndes Fazit, „ist ein Marketingkonzept.“ Eines, bei dem das Bildungssystem die Menschen verdumme – „und daran hat die Industrie ein Interesse“.
Das Smartphone als Freiheitsfalle – der digitale Totalitarisums naht
Das Smartphone erweise sich letztlich auch als gefährliche Freiheitsfalle. Wie eine „mobile Superwanze“ übermittle es permanent Daten – das „Gold des 21. Jahrhunderts“. Schon heute gebe es ein florierendes Geschäft mit den relativ umfassenden Daten der Bürger. Das Argument „Ich habe doch nichts zu verbergen“ hält Hensinger angesichts dessen für einen naiven Selbstentmündigungs-Fatalismus. Denn, auch wenn wir in einer Demokratie leben, „wir liefern heute schon Daten für einen künftigen digitalen Totalitarismus“.
In der Volksrepublik China ist letzterer bereits beschlossene Sache. Ab dem Jahr 2020 wird es dort ein verpflichtendes Einwohnerbewertungssystem geben. Als Datenquellen sollen unter anderem Krankenakten, Vorstrafenregister, Onlineeinkäufe, Beiträge in sozialen Medien oder Kreditkartenzahlungen dienen. Ein Algorithmus leitet daraus dann eine Punktzahl ab. Der Bürger wird damit nachhaltig zum systemkonformen Verhalten konditioniert.
Risiken als gesellschaftliches Problem erkennen
Für Deutschland sieht Hensinger dennoch nicht völlig schwarz: Noch gebe es hierzulande Millionen kluge Menschen. Und inzwischen formiere sich auch eine breite Kritik an der Digitalisierung. Man könne also durchaus hoffen, dass ihre Risiken bald als gesellschaftliches Problem erkannt werden, „damit der Anteil der klugen Jugendlichen steigt.“
Harald Welzer – eine Literaturempfehlung
Harald Welzer kam bei dem Vortrag am Mittwoch immer wieder zur Sprache. Der Soziologe ist ein scharfer, pointierter Kritiker der Digitalisierung.
In seinem 2016 erschienenen Buch „Die smarte Diktatur – der Angriff auf unsere Freiheit“ schreibt er: „Heute trägt jeder sein ‘eigenes mobiles und portables Ein-Personen Minipanoptikum’ mit sich herum, wie die Schnecke ihr Gehäuse. Der Personalisierungsalgorithmus kennt sogar seine Gedanken, aber er kann sie nur kennen, weil er den Horizont des Denkbaren auf das Überschaubare reduziert hat. Es wird nur noch im Horizont des personalisierten Angebots gedacht, nicht darüber hinaus.“
Und weiter: „Sie sind die Laborratte, die die Daten liefert, mit deren Hilfe Sie manipuliert werden.“