Schorndorf

Jugend in der DDR: Ex-Neonazi und Tochter von Bürgerrechtlerin in Schorndorf

DDRZeitgeschichte
Ingo Hasselbach und Nadja Klier sind – mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung –  in die Bibliothek des Berufsschulzentrums Schorndorf gekommen. © Gaby Schneider

Vier Monate Haft wegen eines Die-Mauer-muss-weg-Rufs mit 18 Jahren, drei Jahre im Gefängnis nach einem gescheiterten Fluchtversuch. Davor wurde Ingo Hasselbach als Punk in der DDR systematisch kriminalisiert. Im Chaos der Wendezeit fand er bei Neonazis Halt, mischte einige Zeit ganz vorne bei den Rechten mit, schaffte dann nicht nur den Ausstieg, sondern gründete auch die Aussteigerorganisation „Exit“ und ist heute mit Nadja Klier verheiratet. Sie wurde – weil sich ihre Mutter Freya Klier als Theaterregisseurin systemkritisch äußerte und in ihren Stücken Meinungsfreiheit forderte – 1988, zwei Tage nach ihrem 15. Geburtstag, von einem Tag auf den anderen zwangsweise aus der DDR ausgebürgert.

Gespräch mit Schülern über Aufwachsen in der DDR

In Freiheit aufzuwachsen, unbehelligt seine Meinung sagen zu können, nicht systematisch vom Staat bespitzelt und einfach weggesperrt zu werden – dass das nicht selbstverständlich ist, das haben beide erlebt. In der Bibliothek des Berufsschulzentrums haben sie in einer von Büchereileiterin Adriane Kaucic organisierten und von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützten Veranstaltung vom Aufwachsen in der DDR erzählt und das Gespräch gesucht mit Schülerinnen und Schülern des Berufskollegs für Wirtschaftsinformatik und der Wirtschaftsschule.

Und die hatten – nachdem sie den eindrücklichen Dokumentarfilm „Wir wollen euch mal wat fragen!“ über Klier und Hasselbach gesehen hatten – tatsächlich viele Fragen: Würdet ihr alles wieder genauso machen? Welche Auswirkungen hatte die Haft auf die Psyche? Habt ihr noch Freunde von damals? Was war das Endziel als Neonazi? Was war der Grund für den Ausstieg aus der rechten Szene? Was packt man ein, wenn man von einem Tag auf den anderen seine Heimat verlassen muss?

Die Stasi hat auch Jugendliche als Mitarbeiter rekrutiert

Mehr als einen kleinen Koffer mit ihren Tagebüchern und ein paar Kleidern hat Nadja Klier damals, als ihr Leben in der DDR plötzlich zu Ende war und sie ihre Freunde zurücklassen musste, nicht mitgenommen. Erst Jahre später hat sie erfahren, dass die Stasi 85 Personen auf ihre Familie angesetzt, ja sogar versucht hatte, andere Jugendliche und ihre beste Freundin als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) zu gewinnen.

„Was ist das für ein System“, fragt Nadja Klier, „das nicht mal vor Kindern haltmacht?“ Im Rückblick sieht sie die DDR als Staat, der keine Individualität zulassen konnte: „Wer funktioniert hat, hatte keine Probleme.“ Dabei war’s im Arbeiter- und Bauernstaat bei Strafe verboten, nicht zu arbeiten. Eine Pause vom System – nicht vorgesehen. Kein Wunder, dass der Alkoholmissbrauch in der DDR mit einem durchschnittlichen Schnapskonsum von 16,1 Litern im Jahr rekordverdächtige Ausmaße annahm: „Die Leute haben sich ihren Alltag weggesoffen“, sagt Nadja Klier.

Im Gefängnis kam Hasselbach mit Alt-Nazis in Kontakt

Für Ingo Hasselbach waren der linke, antifaschistische Staat, der ihn jahrelang als politischen Häftling weggesperrt hat, und später die Antifa Hassobjekte Nummer eins. Ins Gefängnis zu kommen, Einzelhaft und Isolation erleben zu müssen, das war für ihn „ein einschneidendes Erlebnis“. Aus einer Haft, sagt der 55-Jährige heute, „kommst du nicht heil raus“. Von 36 Gefängnissen der DDR habe er bestimmt 30 von innen gesehen.

Und dort kam er auch mit inhaftierten Alt-Nazis in Kontakt, die seinen Hass auf den Staat in Richtung Neonazismus lenkten: Da war Henry Schmidt, der einstige Gestapo-Chef von Dresden, der nach dem Zweiten Weltkrieg 30 Jahre lang als Konsumleiter in Dresden gearbeitet hatte; vor allem aber Heinz Barth, der als Obersturmführer der Waffen-SS am Massaker von Oradour beteiligt war.

Später, im Chaos der Wendezeit, kam Hasselbach in Hamburg mit Michael Kühnen, einem der führenden Neonazis der Bundesrepublik, zusammen, gründete in Berlin die Partei „Nationale Alternative“, besetzte mit anderen Neonazis ein Haus, sah sich mit einem enormen Zulauf von orientierungslosen Jugendlichen konfrontiert – und fand plötzlich das, was er in der DDR nie erlebt hatte: Anerkennung.

Der Ausstieg aus der Neonazi-Szene: Ein langer Prozess

Dass er junge Menschen beeinflusst und für die Neonazi-Szene gewonnen hat, das bereut er heute. Seinen Ausstieg beschreibt er als langen Prozess – ausgelöst von einem französischen Journalisten, der eine Doku über ihn drehen wollte und ihn mit den richtigen Fragen zum Nachdenken brachte: Der entscheidende Punkt aber war für ihn mit dem Brandanschlag erreicht, den Neonazis 1992 auf ein Wohnhaus in Mölln verübten: „Ich habe immer gesagt, Ausländer raus, und Jugendliche haben das gemacht.“

Haselbach sieht in AfD den verlängerten Arm des Rechtsextremismus

Nach seinem Ausstieg brach er jeglichen Kontakt zur Szene und zu engsten Freunden ab, lebte aus Sicherheitsgründen jahrelang unter anderem Namen in den USA, später in Schweden und kehrte dann nach Berlin zurück. Im Jahr 2000 gründete Hasselbach die Organisation „Exit“, mit der schon 750 Neonazis aus der Szene herausgekommen sind.

Heute sieht Ingo Hasselbach im zunehmenden Rechtspopulismus eine große Gefahr und in der AfD den verlängerten Arm des Rechtsextremismus – mit Sitz in den Parlamenten. Das Gewaltpotenzial schlummert im Untergrund: „100 Neonazis werden per Haftbefehl gesucht.“ Dazu kommen Corona-Leugner, Wutbürger und Querdenker, die mit Neonazis marschieren. Wie Nadja Kliers Vater, der als Covid-Leugner beim Sturm auf den Reichstag dabei war. Dass er gemeinsam mit Neonazis marschiert ist, sagt Klier, tut er ab – für ihn geht's „ums große Ganze“. Seitdem hat die 50-Jährige den Kontakt mit ihrem Vater abgebrochen.

Geht vom Linksextremismus eine große Gefahr aus?

Und dann streckt ganz zum Schluss, als Ingo Hasselbach und Nadja Klier schon am Zusammenpacken und auf dem Weg zur nächsten Schul-Veranstaltung sind, ein Schüler den Finger in die Höhe und fragt, ob nicht auch vom Linksextremismus große Gefahr ausgehe und was denn dabei sei, wenn Rot-Weiß-Erfurt-Fans Anhänger des linken Jenaer Fußballclubs im Stadion als „Judensau“ beschimpften? Das sei, so der Schüler, doch nicht mehr als Provokation.

Nadja Klier und Ingo Hasselbach, die aus ihrer und aus der deutschen Geschichte einiges gelernt haben und womöglich gerne ausführlicher diskutiert hätten, geben trotz aller Zeitnot zumindest das zu bedenken: „Dann klammerst du die Geschichte aus und sechs Millionen Juden, die in Deutschland ermordet wurden.“ Für Ingo Hasselbach ist eines ganz klar: „Die gesellschaftliche Gefährdung durch rechts ist wesentlich größer als durch Linksextreme.“

Vier Monate Haft wegen eines Die-Mauer-muss-weg-Rufs mit 18 Jahren, drei Jahre im Gefängnis nach einem gescheiterten Fluchtversuch. Davor wurde Ingo Hasselbach als Punk in der DDR systematisch kriminalisiert. Im Chaos der Wendezeit fand er bei Neonazis Halt, mischte einige Zeit ganz vorne bei den Rechten mit, schaffte dann nicht nur den Ausstieg, sondern gründete auch die Aussteigerorganisation „Exit“ und ist heute mit Nadja Klier verheiratet. Sie wurde – weil sich ihre Mutter Freya Klier

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