Bestsellerautor Herbert Renz-Polster: So meistern Familien die Corona-Krise

Waiblingen.
In der Coronavirus-Krise stehen Eltern und Kinder unter Druck wie nie zuvor. Die viel beschworene, aber nur selten realisierte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird in Zeiten, in denen das Virus Kita-Schließungen und Home-Office erzwingt, engültig zum Fremdwort. Der in Waiblingen aufgewachsene Kinderarzt und Bestsellerautor Herbert Renz-Polster erklärt, was jetzt auf den Familien lastet und wie sie mit der Situation umgehen können.
Herr Renz-Polster, es mangelt Familien derzeit nicht an gut gemeinten Vorschlägen zu sinnvoller Beschäftigung im Haus: Eltern können mit Kindern basteln, aufräumen, die Wohnung in einen Abenteuerspielplatz verwandeln. Was aber, wenn beide Eltern im Home-Office arbeiten und zwischendurch ruhige Arbeitsphasen brauchen? Das kann vor allem bei kleinen Kindern eine Herausforderung werden …
Da stimme ich zu, für die Kinder ist es ja auch eine Herausforderung. Das Wort „sinnvolle Beschäftigung“ würde ich dann als Erstes aufgeben, was ist denn sinnvoll für ein Kind? Dass es sich geborgen fühlt, ist seine Basis für jeden „Sinn“. Dass die Stimmung in der Bude gut ist und zumindest immer wieder auffrischt, ist auch wichtig. Alles andere folgt dann hinterher. Man kann mit schlechter Stimmung jede Beschäftigung eines Kindes vermasseln, ob sinnvoll oder nicht. Leider ist unsere Stimmung als Eltern aber auch nicht einfach einzustellen wie ein Thermostat. Darin sehe ich die größte Herausforderung. Und dann hängt vieles vom Alter ab. Ruhige Arbeitsphasen mit einem Zweijährigen sind einfach schwer planbar, das ist immer ein Slalomlauf. Ältere Kinder helfen dann auch schon mal mit und malen dir für die Excel- Tabelle gerne noch eine Verzierung dazu. Aber wirklich, da muss jeder schauen, wie man da jetzt möglichst viel Sonnenschein reinkriegt, trotz all der Wolken.
Ist in diesen außergewöhnlichen Zeiten mehr Medienkonsum in Ordnung?
Natürlich. Dadurch entsteht doch kein Hirnschaden. Und jede Forschung zeigt immer wieder das Gleiche: Es ist nicht der Medienkonsum an sich, der Kinder in ihrer Entwicklung behindert. Es sind schlechte Beziehungen. Und die machen den Medienkonsum dann oft erst zu dem Drachen. Deshalb: Augen zu und durch. Aber die gemeinsame Zeit nicht zur Disposition stellen, die Rituale des Alltags, Schönes miteinander gestalten. Komm, freue dich an mir! Und: Komm, freue dich mit mir - oft meinen Kinder genau das, ohne es zu sagen. Und wir vergessen es manchmal. Und dann geht es immer nur um Negatives. Und dann leiden alle zusammen. Da rauszukommen, da hat jeder seinen eigenen Weg. Wenn es einen Trick gäbe, würde ich ihn sofort verraten!
Kinder leben in Netzwerken – und normalerweise ist das gut so. Nun dürfen sie weder Großeltern noch ihre Kita-Freunde sehen. Was machen Isolation und Abstandhalten entwicklungspsychologisch mit den Kindern?
Das ist echt interessant zurzeit. Es gibt Kinder, denen macht die Zeit zu Hause allein mit den Eltern oder einem Elternteil nicht viel aus. Manche blühen sogar auf, sie leben auch in Gedanken mit ihren Freunden, malen ihnen Bilder oder es reicht ihnen, mit ihnen zu reden oder zu skypen. Andere leiden ganz doll, sind verstimmt, weil ihnen ihre Menschennetze fehlen. Ich habe die Vermutung, dass vieles sich jetzt verstärkt. Wenn wir es vorher gut hatten mit unserem Kind, kommen wir besser klar. Aber auch das Negative verstärkt sich. Manchmal passiert aber auch Magie - Eltern kommen ihrem Kind jetzt emotional näher und erleben sich und ihr Kind ganz neu. Ich kenne Eltern, für die ist schon ein ausgeschlafenes Kind eine neue Erfahrung. Abstandhalten ist für Kinder schwierig. Es widerstrebt ihren Gefühlen und Bedürfnissen, und in den ersten vier oder fünf Jahren können sie das sowieso nicht verstehen. Auf keinen Fall darf man sie jetzt mit einer Rolle belasten, die sie nicht tragen können: Wir passen jetzt ganz doll auf, damit niemand krank wird oder so. Das können Kinder nicht schultern, sie fühlen sich dann schnell schuldig, wenn doch jemand krank wird. Ich finde besser, wenn man ihnen erklärt, wir waschen jetzt alle öfter die Hände, du bleibst dann besser gesund. Wie beim Zähneputzen. Das wird ganz problematisch für die Kinder, wenn wir jetzt meinen, wir könnten in den Kitas und Schulen die ganze Hygiene bringen, die es braucht, um unter Kindern Ansteckungen zu verhindern. Das schaffen Krankenhäuser ja kaum, und die haben eine irre Logistik. Also das müssen wir uns gut überlegen. Kitas mit Mundschutz und anderthalb Metern Abstand? Da kriegen wir dann eine Generation von verängstigten, sozial verstörten Kindern. Also da würde ich vorher einen Beweis sehen wollen, ob sich dadurch überhaupt Ansteckungen verhindern lassen.
Wie merken Eltern, dass ihre Kinder unter der Situation leiden, wenn diese es nicht direkt artikulieren?
Es gibt nicht die eine Reaktion. Manche Kinder ziehen sich eher zurück, werden geknickt, müde und haben Langeweile. Die wenden ihren Frust nach innen. Andere drehen auf und sind dann „unmöglich“ – sie wenden ihren Frust nach außen. Wieder andere können gut mit ihren Gefühlen umgehen und werden zum Beispiel nähebedürftig. Ich würde sagen, Kinder sind echt robust, und die Eltern sollten nicht zu sehr verzweifeln, wenn es nicht so läuft, wie sie es hoffen. Die Zeiten ändern sich ja wieder – und solange zumindest ein Teil gut läuft, wachsen Kinder dann wieder darüber hinweg.
Das neue Coronavirus und seine Folgen machen auch Erwachsenen Angst. Wie können wir Kindern erklären, was momentan passiert? Was sollten wir besser verschweigen?
Wir haben bei diesem Virus nichts zu verschweigen. Solange die Kinder wissen, dass die Welt, wie sie sie kennen, weiterläuft, können sie mit der Wahrheit umgehen. Dass da eine Gefahr ist, das merken sie ja. Und ich finde auch, man sollte ihnen nicht sagen, dass Mama oder Papa nicht krank werden. Und auch nicht, dass Großmama nicht sterben wird. Weil Kinder ja schnell ein Gefühl bekommen, dass das vielleicht nur so dahergesagt ist. Dann wird ihre Welt unsicher. Den jüngeren Kindern, so unter fünf Jahren, muss man auch gar nicht lange Arien erzählen, sondern auf ihre Fragen eingehen – kurz, aber immer wieder. Bei den älteren Kindern redet man am besten immer wieder drüber, eben in der Sprache, die ein Kind in dem Alter versteht. Gut, wenn Eltern dann wissen, dass Kinder nicht nach einer Garantie suchen, dass die Eltern nicht krank werden, oder die Großmama nicht stirbt. Damit können Kinder umgehen. Kinder suchen vielmehr nach einem Signal, dass ihre Welt stimmig ist, dass sie in einer stimmigen Geschichte leben. Wird Großmama sterben? Das ist möglich, denn manche ältere Menschen können an dieser Krankheit auch sterben, weil sie ja nicht mehr so stark sind. Aber Großmama ist ja ganz schön stark, und wir denken fest an sie, das macht ihr Mut. So in die Richtung. Wirst du sterben, Papa? Ja, so geht es dann weiter, und man kann ihnen dann schon sagen, dass manchmal auch Mamas und Papas krank werden – aber dass sie auch schnell wieder heile werden. Und da gibt es ja auch Ärzte und Ärztinnen, die ein Mittel gegen diesen Erreger suchen. Die nach einer Medizin suchen, die hilft.
Wie können Eltern Verständnis für die Situation ihrer Kinder aufbringen, was sollten sie jetzt für sie tun?
Es ist manchmal schwer, Kinder zu verstehen. Sie sind vielleicht bockig und einfach „unmöglich“. Man ärgert sich über sie, wird selber zornig. Ich finde, dann können sich Eltern eine Aufgabe stellen - eine „Challenge“, wie man heute sagt. Nämlich zu versuchen, ob sie sich so weit in das Kind hineinversetzen können, um zu verstehen, was durch dessen Augen gerade so gewaltig schiefgelaufen ist. Das kann man, wenn man sich anstrengt. Nein, es macht keinen Sinn, dass ein Kind sich mit seinen läppischen Zielen durchsetzen will, die grünen Socken sind ja genauso warm wie die roten. Nur, für einen kleinen Menschen, dessen Welt gerade in Stücke fliegt, stehen die roten Socken vielleicht für einen Triumph. Der muss sein. Eltern sollten einfach nicht aufgeben, ihre Kinder zu verstehen. Denn die Kinder stehen morgens genauso wenig auf, um andere zu nerven, wie Eltern das tun.
Sehen Sie Möglichkeiten, wie bildungsfernen Familien, die Schwierigkeiten mit digitalem Lernen haben, und wie Familien mit erhöhtem Aggressionspotenzial geholfen werden kann?
Für die Kinder gilt dasselbe wie für die angeblich bildungsnahen Kinder – Bildung ist immer nur einen Schritt weit weg. Wer ihn springen kann, bildet sich – das muss nicht über Bücher gehen oder Arbeitsblätter oder Stunden in der Schule absitzen. Ich wünsche mir, dass auch benachteiligte Kinder, deren Eltern es bescheiden geht, jetzt Dinge finden, bei denen ihnen die Augen aufgehen und das Herz vielleicht auch. Auch wenn sie dabei gar nichts für die Schule machen! Vielleicht finden sie es toll, eine Aufgabe zu übernehmen – und sei es Zigaretten zu organisieren für den Onkel. Hauptsache, sie kriegen dafür Anerkennung. Vielleicht lernen sie auch endlich ihren Bruder besser kennen, den sie sonst nie zu Gesicht bekommen, und sei es bei einem Computerspiel.
Die Schulen bleiben geschlossen, die Kinder müssen zu Hause lernen. Ein Riesenschlamassel oder eine Chance?
Es kann eine Chance sein, wenn wir es nicht vermasseln. Und zu Hause eine Art Palliativ-Schule aufzubauen, ist der erste Schritt, es zu vermasseln. Es ist doch jetzt alles anders! Die Eltern machen jetzt etwas, was noch vor wenigen Monaten verboten war: Heimunterricht. Auch das Kind spürt, dass da etwas fundamental anders läuft als sonst, es macht sich Gedanken und Sorgen. Aber jeden Tag gibt es jetzt so viel Neues zu lernen, sich auf einen neuen Alltag einzustellen, Beziehungen neu zu gestalten, auch das Kind muss sich regelrecht neu kennenlernen! Das ist doch ein tolles Lernen! Das ist jetzt seine eigentliche Aufgabe, nicht irgendwelche Arbeitsblätter abzuarbeiten, die diese inneren Prozesse gar nicht aufgreifen. Gute Lehrer und Lehrerinnen laden die Kinder ein, jetzt Geschichten oder Bücher ihrer Wahl zu lesen, von ihrem neuen Leben zu berichten, anderen Kindern Briefe zu schreiben oder vorzulesen, Kunststücke auszuprobieren, Pflanzensamen in die Erde zu stecken und auf der Fensterbank zu beobachten, Youtubefilme anzuschauen, ob sie vielleicht das Häkeln lernen wollen. Ich freue mich für jedes Kind, das sich jetzt nicht dazu erpressen lässt, so zu tun, als sei es in der Schule. Was für eine Chance, mit Kindern jetzt einmal andere Wege des Lernens kennenzulernen. Ihre Wege zu begleiten! Ich hoffe auch wirklich, dass Eltern jetzt so viele gute Erfahrungen machen mit ihren in diesem Sinne lernenden Kindern, dass sie sich der Rückkehr zur „alten Schule“ widersetzen, wo ja oft genug die Fragen der Kinder gar nicht zählen.
Es heißt, Kinder seien kaum selbst durch Corona gefährdet– stimmt das, auch wenn sie etwa Bronchitis oder chronischen Husten haben?
Und ja, das stimmt, und zwar ohne Wenn und Aber. Natürlich gibt es auch mal ein Kind, das an Covid-19 zu Schaden kommt, aber das ist selten, und sicher seltener als bei der Grippe. Da kriegen Eltern ja auch keine Panik. Risikokinder sind schwer zu definieren, weil einfach damit Erfahrungen fehlen, aber das normale Feld-Wald-Wiesenasthma des Kindes macht es noch nicht zu einem Risikokind, auch Heuschnupfen nicht, obstruktive Bronchitis nicht, Pseudokrupp nicht, und so weiter. Da muss schon eine schwere Grunderkrankung vorliegen. Ich habe das Medizinische rund um Covid-19 zuletzt auf meinem Blog „kinder-verstehen“ zusammengefasst, das empfehle ich allen Eltern. Vor allem wünsche ich mir, dass sie jetzt nicht anfangen ihre Kinder unter eine Glasglocke zu stellen. Dieses Virus ist ernst zu nehmen – aber es meint es gut mit den Kindern.
* Dieses Interview erscheint außerdem im Wochenend-Magazin „Schleswig-Holstein am Wochenende“. Daher hat ZVW-RedakteurAndreas Kölbl das Interview gemeinsam mit Kollegin Sina Wilke geführt.