Waiblingen

Fehlbehandlung: Medikamente für Deniz E. planlos dosiert

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Deniz E. im Stuttgarter Landgericht am ersten Tag der Verhandlung um seine „nachträgliche Sicherungsverwahrung“. © ZVW/Sarah Utz

Kernen/Stuttgart.
Dass Deniz E. ein schwieriger, ein aggressiver und manipulativer Häftling war, der das Gefängnispersonal an Grenzen führte, steht außer Zweifel. Immer deutlicher zeigt sich aber auch: Er wurde in der Justizvollzugsanstalt Heimsheim offenbar haarsträubend planlos übermedikamentiert.

Die Aufmerksamkeit steigern, Impulsivität und Hyperaktivität dämpfen

Medikinet ist ein starkes Medikament, es enthält den Wirkstoff Methylphenidat, wird in der Regel Kindern und Jugendlichen mit ADHS-Syndrom verschrieben und soll ihre Aufmerksamkeit steigern, ihre Impulsivität, ihre Hyperaktivität dämpfen. Weil aber massive Nebenwirkungen auftreten können, ist es mit Vorsicht einzusetzen. Die vom Hersteller empfohlene Maximaldosierung liegt bei 80 Milligramm pro Tag.

Deniz E.erhielt in seinen Heimsheimer Gefängnisjahren Medikinet, er wollte es partout, er erklärte, nur so könne er sich „normal“ verhalten und „ruhig werden“. Aber er bekam keine 80 Milligramm pro Tag. Er bekam 120 Milligramm; oder 160; über längere Zeit 200; phasenweise 320 Milligramm pro Tag.

Warum bekam Deniz E. so viel Medikinet?

Am Tag vier der Stuttgarter Landgerichtsverhandlung ging es um die Frage: Darf Deniz E., obwohl er seine zehnjährige Jugendstrafe wegen des Mordes an Yvan Schneider abgesessen hat, weiterhin in „Sicherungsverwahrung“ weggeschlossen werden, geht von ihm wegen einer schweren seelischen Störung nach wie vor eine gravierende Gefahr aus? Im Zeugenstand: ein Heimsheimer Gefängnisarzt. Warum, fragt Richter Holzhausen, bekam Deniz E. so viel Medikinet?

„Er sagte“, antwortet der Arzt, „die Dosis ist zu niedrig für ihn.“ Ständig habe der junge Mann auf Erhöhung gedrängt; und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte er mit Selbstverletzung, machte nächtlichen Radau in der Zelle oder zerstörte Mobiliar.

Der Arzt gab, in Absprache mit einem externen Psychiater, nach. E's Verhalten wurde dadurch nicht besser, eher noch schlimmer. Worauf der Psychiater empfohlen habe: Man solle es weiter „versuchen, es wär die einzige Möglichkeit“.

Unberechenbare Folgen

Immer wieder gab es Hinweise darauf, dass Deniz E. gar nicht alles selber einnahm, sondern die Pillen manchmal nur in der Backentasche verstaute, später ausspuckte und anderen Häftlingen gab im Tausch gegen illegale Drogen wie Cannabis oder Opioide. Um solche Schmuggelgeschäfte zu unterbinden, sagt der Arzt, habe man die Medikinet-Kapseln aufgetrennt, das Pulver herausgeleert, in Wasser aufgelöst und Deniz E. zum Trinken gegeben.

Die beiden psychiatrischen Gutachter, die den Prozess begleiten, hören all dem lange zu, ohne die Miene zu verziehen – nun aber ergreift doch einer das Wort.

Erstens: Wenn der Verdacht bestehe, dass ein Patient nebenbei noch andere Drogen konsumiere, dürfe Medikinet nicht verabreicht werden, weil die Folgen unberechenbar werden.

Zweitens: Man dürfe Medikinet „auf gar keinen Fall in Wasser auflösen. Man darf's nicht auflösen!“ Sonst seien Beginn und Dauer der Wirkung nicht mehr kontrollierbar.

„320 Milligramm habe ich noch nie in meinem Leben verordnet“

Der Gefängnisarzt antwortet: Ihm sei „schon klar, dass das vom Hersteller nicht empfohlen wird. Das mit dem Wasser war ne Notlösung. Uns blieb nichts anderes übrig, als auf unsachgemäße Verwendung auszuweichen.“
Um zu erkennen, ob Medikinet bei einem Patienten „wirkt oder nicht, brauchen Sie keine zwei Wochen“, sagt der Sachverständige: Wenn sich danach bei den „Kernsymptomen“ keine Besserung einstelle, sei klar: Es bringt nichts. Bei Deniz E. aber wurde die Strategie jahrelang weitergetrieben.

„320 Milligramm habe ich noch nie in meinem Leben verordnet“, sagt der Gutachter. Bei derartiger Überdosierung könne die Wirkung ins Gegenteil kippen; könne „feindseliges Verhalten“ auslösen, gesteigerte statt gedrosselter Impulsivität verursachen, appetitmindernd wirken oder gar zu einer „psychotischen Krise“ führen, sprich, zu Wahnvorstellungen.

Im Frühjahr 2016 begann Deniz E. von Halluzinationen zu berichten – er höre Stimmen. Er klagte über„sehr starke Depressionen“, Übelkeit, Appetitlosigkeit, er verlor Gewicht. Im September 2016 kam er ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg.

"Eine Fehlbehandlung in wahrscheinlich dramatischem Maß"

Eine Psychiaterin, die dort mit dem Patienten zu tun hatte, berichtet im Zeugenstand: Schon bei „Normaldosierung“ von Medikinet drohten Nebenwirkungen – bei vierfacher Überdosierung plus Drogen-Beikonsum liege die Gefahr einer „substanzinduzierten psychotischen Episode“ nahe. Wenn jemand Medikinet bekommt, müsse eigentlich jedes Jahr in einem aufwendigen Prüfverfahren aufs Neue ausgelotet werden, ob eine Verabreichung wirklich immer noch angeraten ist. Das sei in Heimsheim „niemals durchgeführt worden“.

Nach zehn Tagen auf dem Hohenasperg wurde Deniz E. zurück in den Normalvollzug verlegt, herunterdosiert auf 80 Milligramm, „psychisch und physisch stabil“. Im Mai 2017 kam er erneut ins Gefängniskrankenhaus – in Heimsheim war er bereits wieder auf 120 Milligramm hochgesetzt worden.

Wie erkläre sie sich all das, fragt der Richter die Psychiaterin. Sie antwortet: Deniz E. habe, um an das Mittel seiner Wahl zu kommen, eine „Zermürbungstaktik“ angewandt – das Personal habe da wohl „irgendwann die Widerstandskraft“verloren.

Richter Holzhausen fasst zusammen: „Ich glaube, es ist klar geworden, dass hier eine Fehlbehandlung in wahrscheinlich dramatischem Maß stattgefunden hat.“