Können Kinder dauerhaft nur zu Hause lernen? Waiblinger Schulleiter: 15 bis 20 Prozent erreichen wir nicht oder nur teilweise

Das Schuljahr 2020/2021 ist kein normales Schuljahr. Es ist ein Schuljahr unter Pandemie-Bedingungen. Das bedeutet auch, dass Lehrer und Schüler keine Präsenzpflicht an Schulen haben. Dies gilt für diejenigen, die zum Beispiel wegen relevanter Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf haben. Schüler können von der Teilnahme am Unterricht entschuldigt werden, eine Attestpflicht besteht für Schüler nicht. Schulpflichtig sind sie dennoch: Sie müssen dann am Fernunterricht teilnehmen.
„Insgesamt gibt es an 58 Schulen insgesamt 74 Schülerinnen und Schüler, die dauerhaft im Fernunterricht sind“, sagt Sabine Hagenmüller-Gehring, die Leiterin des Staatlichen Schulamts Backnang. Gemessen an der Gesamtschülerzahl seien dies lediglich 0,25 Prozent. Aus den Waiblinger Schulen in der Zuständigkeit des Amtes – alle Schulen außer Gymnasien und Beruflichen Schulen – wurden dem Schulamt vor den Herbstferien lediglich acht Schülerinnen und Schüler gemeldet, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen.
Zwei davon besuchen die Wolfgang-Zacher-Schule. Ein Kind ist bereits seit dem ersten Lockdown im März im Fernunterricht, ein weiteres seit den Sommerferien. Für die Grundschule ist das eine Herausforderung, nicht nur, weil die Kinder in diesem Alter noch nicht so selbstständig sind wie Schüler an weiterführenden Schulen: „In der Grundschule spielt die Beziehung zur Lehrerin oder zum Lehrer eine zentrale Rolle, viele Kinder lernen vor allem für den Lehrer“, sagt der Schulleiter Matthias Kleiner. Die beiden Kinder, die dauerhaft zu Hause lernen, müssen nun verstehen, dass sie für sich lernen – eine große Aufgabe für ein Kind im Grundschulalter.
Referate per Videokonferenz präsentieren
Auch für die Lehrer ist es eine große Aufgabe. Da an der Wolfgang-Zacher-Schule keine Lehrkraft zur Risikogruppe gehört, die sich dann von zu Hause aus speziell um die beiden Kinder im Fernunterricht kümmern könnte, müssen die Lehrerinnen diese Betreuung zusätzlich zu ihrem regulären Präsenzunterricht stemmen. Konkret funktioniert es so: „Die Kinder holen mindestens einmal pro Woche ein individuell auf sie zugeschnittenes Lernpaket mit Aufgaben ab“, erklärt Kleiner. Die Kinder oder deren Eltern schicken bearbeitete Aufgaben per Mail an die Lehrer, die diese dann korrigieren und auf demselben Weg zurückschicken. „Zusätzlich stehen die Lehrer per Mail und persönlich ständig mit den Eltern in Kontakt.“
Besonders schwierig ist die Leistungsmessung: „Referate werden in der Regel ebenfalls von zu Hause aus über eine Videokonferenz präsentiert“, so der Schulleiter. Für Klassenarbeiten allerdings müssen die Schüler in die Schule kommen. Um den Kontakt mit anderen Kindern zu vermeiden, schreibt ein Viertklässler seine Arbeiten im Rektorat. Ein jüngeres Kind darf unter Aufsicht seiner Lehrerin im Klassenzimmer schreiben – natürlich nach Schulschluss, wenn alle anderen bereits zu Hause sind.
„Es ist eine hohe Arbeitsbelastung für die Lehrerinnen“, sagt Kleiner. Das liege natürlich nicht nur an den Schülern, die dauerhaft im Fernunterricht sind. Vielmehr müsse auch jede Lehrkraft permanent sowohl auf Präsenz- als auch auf Fernunterricht vorbereitet sein. „Ganz oft kommt am Wochenende die Meldung über einen Corona-Fall oder Verdachtsfall“, sagt Kleiner. Die betroffene Klasse muss dann umgehend in den Fernunterricht, bei dem Videokonferenzen eine zentrale Rolle spielen: „Seit den Sommerferien haben wir ein digitales Angebot, bei dem sich die Klassen mit ihrem Lehrer um 8 Uhr in einer Videokonferenz treffen. Danach folgt eine Arbeitsphase, bevor sich alle wieder in der Konferenz treffen“, erklärt der Rektor.
Eltern berichten von Wutanfällen ihrer Kinder
Technisch sei das auch für Grundschüler kein Problem, psychisch sei jede Quarantäne oder vorläufige Isolierung jedoch eine Belastung: „Eltern berichten mir von sonst ruhigen und ausgeglichenen Kindern, die nach dem dritten Tag zu Hause jähzornig ihre Hefte in die Ecke schleudern“, berichtet Matthias Kleiner. Fehlende Bewegung sei dabei weniger das Problem als der fehlende Kontakt zu Lehrern und Freunden. „Gerade jetzt, wo Freizeitaktivitäten im Sport- oder Musikverein wegfallen, ist die Schule besonders wichtig“, sagt der Schulleiter.
Sorgen bereiten ihm außerdem die Kinder, die im Fernunterricht „verloren“ gehen. Rund 15 bis 20 Prozent der 325 Schülerinnen und Schüler der Wolfgang-Zacher-Schule erreiche man mit den Videokonferenzen nicht oder nur teilweise. „Je länger diese Situation dauert, umso größer wird die Schere zwischen dem Lernstand der Kinder“, so Kleiner. In der Grundschule versucht man diese Defizite auszugleichen, hat zusätzliche Förderangebote geschaffen, die beispielsweise von PH-Studenten oder Lesepaten an der Schule angeboten werden, wenn die Fernlernphase zu Ende ist.
Spätestens wenn die Kinder auf weiterführende Schulen wechselten, könnten entstandene Defizite aber nicht mehr aufgefangen werden, befürchtet Kleiner: „An großen Schulen können Rektor und Lehrer keinen solch engen Bezug zu den Schülern haben wie wir und können also nicht in dieser Form auf einzelne Schüler eingehen.“