Kretschmann: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“
Weinstadt. Wer vor der Wahl noch mal genau wissen wollte, warum Winfried Kretschmann so beliebt ist, der bekam die Erklärung am Freitagabend in der Endersbacher Jahnhalle über eineinhalb Stunden lang minütlich geliefert. Ein brillanter Ministerpräsident zeigte sich philosophisch-bodenständig, charmant und – nicht üblich bei Politikern – klar verständlich und auf den Punkt.
Es war ein besonderer Einstieg ins politische Vorwahlkampf-Geplänkel, das im Übrigen vollständig ausfiel. Winfried Kretschmann verzichtete auf jegliche wahlkampftaktische Bösartigkeit gegenüber der politischen Konkurrenz. Höchstens klitzekleine Spitzchen gönnte er sich, die er aber mit einem besonderen Augenzwinkern gegenüber der eigenen Person ausstattete – zum großen Vergnügen der rund 450 Besucher des Zeitungsverlags in der Endersbacher Jahnhalle. Ministerpräsident Winfried Kretschmann zeigte, was er konnte.
Das ganze Gespräch bekam einen philosophischen Glanz, verbunden mit der Forderung nach Menschenfreundlichkeit und einem zivilisierten Zusammenleben – begründet in Kretschmanns Bewunderung der jüdischen Philosophin und Politologin Hannah Arendt. Auf die, sagte Kretschmann, sei er gestoßen, als er sich von seiner „linksradikalen Phase“ in der Studentenzeit verabschiedet habe. Untrennbar mit dieser Gedankenwelt verbunden ist auch das, was Kretschmann trotz seiner Zugehörigkeit zu den Grünen stets den Ruf des Konservativen einbringt: „Wenn konservativ heißt, dass die Werte, die die Menschheit schon immer hochgehalten hat, auch zukünftig immer gelten, bin ich stockkonservativ.“ Diese Definition habe im Übrigen der ehemalige Ministerpräsident Stefan Mappus mal von ihm gehört und dann flüsternd gesagt: „Au, des muss i mir merken.“
Flüchtlingskrise kann nicht rechlich, nur politisch gelöst werden
Ganz klar kam Kretschmanns Bekenntnis zur Kanzlerin und ihrer Flüchtlingspolitik. Das Recht auf Asyl, sagte er, sei ein Grundrecht und nicht „irgendein Gnadenakt“. Das Recht auf Asyl gründe auf dem ersten Artikel des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieses Gesetz habe keine Obergrenze, sei nicht beliebig und darauf müsse Politik fußen. Es gelte auch der biblische Satz „Liebe deinen Nächsten“. Der gehe aber weiter und zwar mit den Worten „wie dich selbst“. Niemand dürfe die Nächstenliebe so weit treiben, dass er selbst untergehe. Wenn wir die Grenzen im Wunsch, zu helfen, ganz öffneten, könnten wir bald gar nicht mehr helfen. Deshalb könne die Flüchtlingskrise nicht rechtlich, sondern nur politisch gelöst werden. Angela Merkel sei „Politikerin durch und durch“. Und er, Kretschmann, sage: Die Vorkommnisse von Köln waren nicht rechtens, Brandbomben in Flüchtlingsheime zu werfen sei auch nicht rechtens. Wer hier leben wolle, müsse sich an geltendes Recht halten. Das müsse man Menschen aus fremden Kulturen vielleicht manchmal erklären, etwa wenn es um leicht bekleidete Frauen gehe, die halt einfach nur leicht bekleidet seien und sonst nichts. Aber die Menschen kämen ja genau wegen unseres Rechts hierher und deshalb würden wir „den Teufel tun“ und dieses Recht in Gefahr bringen. Unser Recht gelte für alle.
Tja, und was tun, wenn er nach der Wahl aufgrund der Prozentverteilung nicht mehr das Recht habe, mit der SPD zusammen die Regierung zu bilden? Neuwahlen? „Das wäre schlimm.“ Wenn es nicht reichen sollte, gebe es erstens „Lockerungsübungen“ und dann „muss man das machen, was man nicht will, aber muss“. Er würde mit allen zurzeit im Landtag vertretenen Parteien reden, alle seien koalitionsfähig, „wenn auch nicht -willig“. Festlegungen vor der Wahl halte er für nicht vernünftig: Neuwahlen, bis es passt, führten die Demokratie ad absurdum. Koalitionsabsagen, die hinterher nicht eingehalten würden, wären das erste gebrochene Wahlversprechen. Deshalb: „Keine Ausschließeritis unter demokratischen Parteien.“ Mit der AfD allerdings würde, und das sagte Kretschmann am Freitag und damit schon vor der Wahl klar und deutlich, „ich unter keinen Umständen koalieren“.
Weinstadt. Wenn die Grünen und damit er, Winfried Kretschmann, wieder die Regierung stellen, dann soll’s so weitergehen, wie die letzte Legislaturperiode war, nämlich „gut!“ Kretschmann geht’s um die Wirtschaft, die Natur, um Bildung und den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Seinen größten Erfolg, sagt Winfried Kretschmann, habe er in der vergangenen Legislaturperiode gehabt, als er erst wenige Wochen als Ministerpräsident im Amt war. Damals sei der Beschluss zur Energiewende und zum Atomausstieg einstimmig gefallen. „Wo das rum war, hab’ ich mir gesagt: Winfried, das hat sich schon gelohnt.“
Einen größten Fehler habe er dagegen – zumindest aus seiner Sicht – keinen gemacht. „Kleine macht man dauernd.“ Die verbindliche Grundschulempfehlung zum Beispiel hätte, das sieht er im Nachhinein, am Ende des Schulreformprozesses und nicht am Anfang abgeschafft werden müssen. Und bei der Entwicklung des neuen Bildungsplans stellte er fest: „Holla, da läuft was falsch.“ Das Problem lag aber in der Kommunikation, nicht im Inhaltlichen: Es sei nie um sexuelle Praktiken gegangen, es habe nie Sadomaso im Unterricht besprochen werden sollen. Sondern es ging, sagt er, um die Vielfalt der Menschen.
Der neue Bildungsplan sei inzwischen überarbeitet. Doch vor der Wahl komme er nicht mehr. „Vielleicht im Sommer.“ Und bei aller neuen Schulpolitik: Die Realschulen seien nicht in Gefahr. „Wir haben sie gestärkt.“ Für die Realschulen gebe es mehr Stunden, mehr Lehrer und jetzt auch individuelle Förderung. „Wir schreiben die Gemeinschaftsschulen doch niemandem vor.“ Sie seien nur nicht mehr verboten.
Seine „Politik des Gehörtwerdens“, stellt er fest, müsse noch geübt werden. „Wenn die Leute nicht recht bekommen, haben sie oft das Gefühl, man hat ihnen nicht zugehört.“ Gehört werden heiße aber nicht, dass man immer erhört werde. „Das geht gar nicht.“ Das zeige sich schon bei ganz einfachen Beispielen wie etwa bei Stuttgart 21, dem Nationalpark oder dem neuen Gefängnis. Da gebe es schon in einer Diskussion völlig konträre Meinungen. Es sei unmöglich, allen nachzugeben.
Apropos Stuttgart 21: Ob man nicht doch noch mal einen Volksentscheid durchführen könne, um dieses Projekt zu kippen? Das könne man schon, sagte Kretschmann. Wenn die Gegner genügend Stimmen zusammenbrächten. „Aber wir Grüne werden das ganz bestimmt nicht machen.“ Die Argumente gegen Stuttgart 21 seien von Anfang an auf dem Tisch gelegen. Man habe alles von Anfang an gewusst. Doch die Mehrheit habe der anderen Seite geglaubt und für den neuen Bahnhof gestimmt. Und jetzt werde dieser eben gebaut. So sei das nun mal in einer Demokratie.
Und der Nord-Ost-Ring? Wird der kommen? Nein, der Nord-Ost-Ring sei „ganz problematisch“. Und viel zu teuer. Er würde „gigantische Summen“ kosten – „woher soll das kommen?“. Es gebe bessere, schnellere und günstigere Lösungen. Etwa die zweite Brücke in Remseck.
Windräder? „Die ganze Welt ist uns dafür dankbar“
Und warum sollen hier, wo der Wind nur lau ist, unbedingt Windräder die Bevölkerung plagen? „Wenn der Klimawandel dramatisch wird, verändert er die Landschaft viel dramatischer“ als ein paar Windräder. „Wir wollen das, wir brauchen das.“ Schließlich werde der Strom ja hier benötigt. In Baden-Württemberg seien 1000 Windräder geplant. Das sei nicht viel für ein Land in dieser Größe. Und inzwischen sei die Produktion von Strom aus Wind auch schon wirtschaftlich. „Die ganze Welt ist uns dafür dankbar.“ Man komme um die Windräder nicht herum. Zumal auf den Höhen des Schwarzwaldes der Wind dem an der Nordsee durchaus nahekomme.
Seine Ziele für die Zukunft: Der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg müsse erhalten und weiterentwickelt werden. Doch die schöne Landschaft dürfe gleichzeitig nicht erdrückt werden. Wirtschaft und Forschung müssten vom Naturverbrauch entkoppelt werden. Das sei die große, grüne Aufgabe. Und letztlich gelte es, in Zeiten wie diesen die Gesellschaft zusammenzuhalten. Es gebe so viele Meinungen wie Menschen. „Wir müssen zivilisiert streiten. Zivilisiertes Streiten hält die Gesellschaft zusammen. Fanatischer Streit treibt sie auseinander.“

