Waiblingen

Rehkitz mitgenommen - "zum Tode verurteilt"

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Symbolbild. © Sarah Utz
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Rehkitz-Rettung: Der Korber Jagdpächter Kurt Böhringer ist entsetzt.

Korb-Kleinheppach.
Gut gemeint, schlecht gemacht: Wohl aus Mitleid haben Spaziergänger kürzlich ein einsames Rehkitz vom Waldrand mitgenommen. Zum Entsetzen des Korber Jagdpächters Kurt Böhringer: „Das Kitz ist zum Tode verurteilt!“ Dringlich mahnt er, junge Wildtiere vom süßen Bambi bis zum flauschigen Häschen in Ruhe zu lassen. Sprich: Hände weg und zügig weitergehen.

Von der Polizei hat Kurt Böhringer erfahren, dass am Kleinheppacher Kopf kürzlich Spaziergänger mit einem Rehkitz gesichtet worden seien. Wo es nun ist, weiß er nicht. Doch wie es dazu kam, kann er sich leicht erklären: Passanten haben vermutlich am Wegesrand ein Neugeborenes gefunden und beschlossen, das augenscheinlich verlassene Jungtier mitzunehmen.

Revierpächter: "Die Ricke holt das Kitz!"

Ganz falsch, sagt der 64-jährige Revierpächter. Er ist für das gesamte Gebiet um Korb zuständig, von Gundelsbach bis zur B 14. „Das sollte man lassen. Die Ricke holt das Kitz!“ Die Muttertiere versteckten ihren Nachwuchs lediglich, erklärt er. Diesen bringen sie zwischen April und Juli an geschützten Plätzen auf die Welt, im hohen Gras am Waldrand oder zwischen zarten Jungbäumen zum Beispiel. Die Jungtiere bleiben dort bis zu vier Wochen lang liegen, bevor sie schließlich ihrer Mutter aus dem Versteck heraus folgen.

Muttertiere kommen einmal am Tag zu ihren Neugeborenen

Die Verstecke schützen Kitze normalerweise gut. Da diese nach der Geburt noch keinen Eigengeruch verströmen und ihr geschecktes Fell sie tarnt, sind sie für Fressfeinde wie Füchse oder freilaufende Hunde kaum zu entdecken. Auch Menschen werden meist nur auf sie aufmerksam, wenn sie schnelle Bewegungen machen.

Die Rehgeiß kommt alle paar Stunden vorbei und säugt ihren Nachwuchs, den Rest des Tages verbringt sie in der Umgebung. Denn sie verströmt einen Geruch, der Raubtiere anlocken und zu ihrem Versteck führen könnte. Nur selten stößt ihr etwas zu, das sie an der Rückkehr hindert – und wenn, sei es Böhringer zufolge meist ein tödlicher Unfall im Straßenverkehr. In einem Fall kommt das Reh jedoch bestimmt nicht zum Kitz. Und zwar, wenn es den Geruch von Menschen wittert. Das ist die instinktive Reaktion des Fluchttiers. Solange es sich nur um Passanten handelt, die schnell weiterziehen, ist das halb so schlimm: Der Wind vertreibt die Duftwolke über kurz oder lang.

Riecht das Kitz nach Mensch, wird es von der Mutter nicht mehr versorgt

Wenn das Kitz jedoch angefasst worden ist, riecht es plötzlich selbst nach Mensch – und wird von der Mutter nicht mehr versorgt. Das gilt auch für andere Wildtiere wie Hasen oder Vögel. Trotzdem ist es noch lange kein Todesurteil, ein Kitz mitzunehmen, mag der eine oder andere nun einwenden. Dann wird es eben mit der Flasche großgezogen. Pustekuchen, widerspricht der Kleinheppacher. Schon die Aufzucht sei schwierig genug – angefangen damit, dass ein Ersatz für Rehmilch gefunden werden muss und der Kontakt mit Menschen für Wildtiere massiven Stress bedeutet. „In den meisten Fällen verendet das Tier.“ Selbst wenn es jedoch artgerecht gefüttert und gehalten werden könne, sei die Auswilderung das nächste Problem. Dafür brauche es ein geeignetes Grundstück in Waldnähe, von dem aus der Zögling schrittweise an seine natürliche Lebenswelt und deren Gefahren gewöhnt werden kann.

Aufzucht ist schwierig: „In den meisten Fällen verendet das Tier“

Im Remstal weiß der Jäger von keiner Auffangstation, die die Aufzucht leisten könnte. Solche Stationen werden zwar von der Landesverwaltung nicht zentral erfasst, doch ein Gutachten, das 2015 vom Landesministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz veröffentlicht worden ist, legt Ähnliches nahe. Von rund 80 vom Gutachter erfassten Auffangstationen nahmen lediglich vier „eine breite Palette von Wildtieren“ auf. Der Rest war auf einzelne Tierarten ausgelegt, allen voran Igel (rund 40) und Vögel (26). In einem Verzeichnis des Vereins Wildtierschutz Deutschland ist ums Remstal nur eine Igel-Auffangstation in Stuttgart gelistet. Auf der Nabu-Webseite wiederum ist nur eine Einrichtung für Vögel und Fledermäuse nahe Aalen zu finden.

Bei Tierschutzvereinen sieht es dem Gutachten zufolge ähnlich mau aus: Zwar nehmen Tierheime gelegentlich Wildtiere für eine medizinische Erstversorgung auf, doch 2015 hätten landesweit nur vier Vereine eine größere Anzahl von Wildtieren aufgenommen. Der Tierschutzverein Waiblingen und Umgebung, der auch für Korb zuständig ist, gehört nicht zu diesen vier. Er verweist bei Wildtierfunden auf die Gemeindeverwaltungen und die Polizei – die für Korb dann Jagdpächter Böhringer kontaktieren.

Ein Kitz mitzunehmen, ist eine Straftat: Es gilt als Wilderei

Selbst aufziehen dürfen Finder Wildtiere nach dem Bundesnaturschutz- und Tierschutzgesetz auch nicht: Sie müssten ein artgerechtes Umfeld bieten sowie die nötigen Kenntnisse und Erfahrung für die Aufzucht haben. Streng genommen hätten die Spaziergänger das Kitz noch nicht einmal mitnehmen dürfen. Dazu ist nur der Jagdpächter befugt. Strafrechtlich gesehen haben die Unbekannten gewildert.

Was also passiert mit einem Rehkitz, dass angefasst oder mitgenommen worden ist? Im ersten Fall verhungert es. Im zweiten Fall bleibt als Ansprechpartner nur der örtliche Jagdpächter, hier Böhringer. Doch der sagt offen: „Ich würd’s mir nicht zutrauen, ein Kitz aufzuziehen.“ Und dann? Im schlimmsten Fall muss er es „von seinen Qualen erlösen“. Umso mehr ärgert ihn die Entscheidung der Unbekannten. „Das tut mir als Jäger weh. Ich bin so betroffen gewesen, als ich das gehört habe“, sagt er mit bewegter Stimme. „Das Kitz hat irgendeiner mitgenommen, der sich keine Gedanken gemacht hat, was er damit anrichtet.“


Respektvolle Distanz

Um Rücksicht bittet Jagdpächter Kurt Böhringer: Um Wildtiere nicht unnötig aufzuscheuchen, sollten Waldbesucher sich grundsätzlich an die Wege halten. Das gilt umso mehr in der Setzzeit – und für Radfahrer ebenso wie für Spaziergänger, betont Böhringer. Waldbesuche bei Nacht, womöglich mit Taschenlampe oder Scheinwerfern, sollten unterbleiben.

Auch wenn in Baden-Württemberg mit wenigen Ausnahmen kein Leinenzwang herrscht, sollten Hunde außerdem an der Leine geführt werden. Wie Füchse, Katzen und Wildschweine sind sie Fressfeinde junger Hasen und Rehe.

Wer ein verletztes Wildtier findet, das offensichtlich Hilfe benötigt, sollte die Polizei anrufen. Das Waiblinger Revier ist erreichbar unter 0 71 51/ 95 00, in sehr dringenden Notfällen kann auch 110 gewählt werden. Kleine, ungefährliche Wildtiere können dem Tierschutzverein Waiblingen und Umgebung zufolge direkt zum Tierarzt gebracht werden.