Jahrzehnte des Hasses (4/7): Straßengewalt und die Idee vom führerlosen Widerstand – die 1990er Jahre
In der Artikel-Serie "Jahrzehnte des Hasses" skizzieren wir im Gespräch mit dem Rechtsextremismus-Experten Prof. Dr. Fabian Virchow die Kontinuitäten rechtsextremen Terrors in der Bundesrepublik Deutschland. Die Texte stammen aus dem Ausstellungsband "Menschen – im Fadenkreuz des rechten Terrors". Alle Teile der Serie finden Sie hier.
Der Mauerfall markierte Ende 1989 den Anfang vom Ende des Kommunismus im Herzen Europas. Anfang der 90er wurde Deutschland offiziell wiedervereint, während Jugoslawien zerfiel und die Sowjetunion sich langsam auflöste.„Für die extreme Rechte begann eine Phase, die wir ‚historischer Optimismus‘ nennen“, sagt Fabian Virchow. „Nach dem Motto: Jetzt sieht man, dass sich das völkische Prinzip durchsetzt, jetzt passiert endlich das, wofür wir seit Jahrzehnten eintreten.“ Dieser neue „Optimismus“ wurde von Straßengewalt begleitet.
Tödlicher Hass: Rechtsextreme Ausschreitungen und Anschläge
24. November 1990: Im brandenburgischen Eberswalde rotten sich Skinheads zusammen. Sie wollen „Neger klatschen“ und treffen in der Nacht auf den angolanischen Vertragsarbeiter Amadeu António Kiowa und zwei Männer aus Mosambik. Die Neonazis schlagen auf Kiowa ein, attackieren die beiden Mosambikaner mit Messern. Als Kiowa am Boden liegt, springt einer der Angreifer mit beiden Füßen auf seinen Kopf.
Drei Zivilfahnder beobachten die Tat aus der Nähe. Sie werden später zu Protokoll geben, dass sie sich nicht getraut hätten, einzugreifen. Der 28-jährige Amadeu António Kiowa erleidet schwerste Verletzungen und fällt in ein Koma, aus dem er bis zu seinem Tod elf Tage später nicht mehr erwachen wird.
Während Politik und Gesellschaft in den Jahren nach der Wende über das Asylrecht in Deutschland streiten, werden vor allem Asylbewerber und Menschen mit Migrationshintergrund zum Ziel rechtsextremer Ausschreitungen und Anschläge. 1991 in Hoyerswerda, 1992 in Rostock-Lichtenhagen und Mölln.
Der Vorsitzende der rechtsextremistischen Partei „Nationalistische Front“ (NF), Meinolf Schönborn, wollte diese rechtsextreme Gewalt offenbar noch professionalisieren. Im Herbst 1991 rief der ehemalige NPD-Mann zur Gründung sogenannter „Nationaler Einsatzkommandos“ auf – einer Art paramilitärischer Kleingruppen.
In dem von ihm unterzeichneten Aufruf nannte Schönborn als deren Aufgaben die „Aufstellung kadermäßig gegliederter hochmobiler Verbände, Ausbildung von sportlichen und gesunden Kameraden für den politischen Kampf auf der Straße, Planung und Durchführung von überraschend durchgeführten zentralen Aktionen“. Dabei sollten sich die „jungen Nationalisten“ unter anderem ein Beispiel an der Waffen-SS nehmen.
Brandanschlag von Solingen: "Wir wollen nicht vergessen"
29. Mai 1993: Bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen sterben zwei Frauen und drei Mädchen.
Gürsün Ince, damals 27 Jahre alt.
Hatice Genç, damals 18 Jahre alt.
Gülüstan Öztürk, damals 12 Jahre alt.
Hülya Genç, damals 9 Jahre alt.
Saime Genç, damals 4 Jahre alt.
Sie sterben in den Flammen, sie sterben beim verzweifelten Sprung aus dem Fenster. Weitere Familienmitglieder, darunter weitere Kinder, erleiden teils lebensgefährliche Verletzungen.
„Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen.“ So steht es heute auf einem Mahnmal, das in Solingen an den Anschlag erinnert. Die vier jungen Männer, die für die Tat verurteilt wurden, hatten Kontakte zur rechtsextremen Szene.
Kampfgruppen und rechtsextreme Musik
Wie schon in den Jahrzehnten zuvor bildeten sich auch in den 90er Jahren zahlreiche rechtsterroristische Gruppierungen. Einige, wie die „Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ oder die „Kampfgruppe Schörner“, bezogen sich offen auf den Nationalsozialismus.
Mitte der 90er Jahre entstand in Deutschland ein Ableger des britischen Neonazi-Netzwerks „Blood and Honour“, das sich die Koordination rechtsextremer Musiker, Labels und Konzertveranstalter auf die Fahnen geschrieben hatte. Bis zum Verbot im Jahr 2000 galt die deutsche „Division“ als eine der größten in ganz Europa.
Bands wie „Landser“, „Oidoxie“, „Noie Werte“ und „Weisse Wölfe“ zählen sich teilweise bis heute zur Bewegung „Blood and Honour“. Auch die späteren NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden vom LKA Thüringen 1998 „zum harten Kern der Blood & Honour-Bewegung“ in Jena gezählt.
Es folgten nicht nur eine Flut an Tonträgern voll rassistischer, NS-verherrlichender Propaganda und eine Fülle von Fanzines und Konzerten. Auch der bewaffnete Arm des Netzwerks, die Rechtsterroristen von „Combat 18“, fassten Fuß in Deutschland. Wieder mit den Musikbands im Zentrum.
"Führerloser Widerstand" und der angeblich einsame Wolf
19. Februar 1997: Der Neonazi Kay Diesner betritt mit einer Pumpgun bewaffnet die Berliner Buchhandlung des damals 63 Jahre alten Klaus Baltruschat. Der Inhaber nimmt einen Schatten hinter sich wahr, dreht sich um – und Diesner schießt. Der Neonazi flieht und lässt den Buchhändler schwer verletzt zurück.
Vier Tage später kontrolliert die Polizei Kai Diesner auf einem Autobahnparkplatz in Schleswig-Holstein. Es kommt zum Schusswechsel. Diesner erschießt den Polizisten Stefan Grage und verletzt dessen Kollegen Stefan Kussauer schwer, bevor er aufgibt. Bei seiner Festnahme spricht er vom „weißen arischen Widerstand“.
Später stellte sich heraus: Der Buchhändler war offenbar nicht das Ziel des Neonazis. Das eigentliche Ziel saß ein Stockwerk höher. Im selben Gebäude in Berlin-Hellersdorf befand sich damals auch die Bezirksgeschäftsstelle der PDS, in der auch der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi ein Büro hatte.
Diesner gilt heute als Beispiel für einen „einsamen Wolf“, der seine terroristischen Ziele abseits der üblichen Organisationsstrukturen im Verborgenen, ohne Anweisung oder Unterstützung von Dritten umsetzte. Diese Aktionsform wird nach einem Aufsatz des US-amerikanischen Rechtsextremisten Louis Beam „leaderless resistance“ genannt – „führerloser Widerstand“.
„Das traditionelle Organisationsverständnis im Rechtsextremismus ist hierarchisch-autoritär“, sagt Fabian Virchow. „Doch im Laufe der Zeit wurde klar, dass das nicht funktioniert. Es gibt eine ausgeprägte V-Leute-Tätigkeit in der Szene, es gibt profilierungssüchtige Menschen, die man nicht unter einen Hut bekommt.“ Deswegen sollte der Kampf ohne ausgeprägte Hierarchie an die Stelle paramilitärischer Gruppen treten.
Dieses Konzept des führerlosen Widerstands ist in der rechtsextremen Szene intensiv diskutiert worden. „Es versprach, die wichtigsten Probleme zu lösen und gegenüber staatlichen Repressionen weniger angreifbar zu sein“, sagt Virchow. „Nach dem Motto: Fliegt die eine Zelle auf, kann der Rest weitermachen.“ Das gemeinsame Ziel bestimmt die Angriffswellen. Kein Kommandant.
„Blood and Honour“ und „Combat 18“ adaptieren den „führerlosen Widerstand“ früh in Form von Texten und Taten. Doch eine Gruppe steht in Deutschland wie keine andere für die Umsetzung dieses Konzepts: der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU. Wie die Taten dieser Gruppe die 2000er Jahre prägten, lesen Sie im fünften Teil unserer Serie.
Menschen – im Fadenkreuz des rechten Terrors
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Menschen – im Fadenkreuz des rechten Terrors". Es kann über den ZVW-Shop oder im Online-Shop von CORRECTIV vorbestellt werden. Das gleichnamige Projekt ist eine Kooperation elf renommierter Regionalmedien in Zusammenarbeit mit dem Weissen Ring e.V., unter Leitung des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV.
Weitere Texte zum Thema finden Sie auf www.menschen-im-fadenkreuz.de oder unter zvw.de/menschen-im-fadenkreuz.