Arbeit auf Corona-Intensivstation Winnenden: Was das Krankenhaus-Personal erlebt

Der Mann, Mitte 40, „stand mitten im Leben“: guter Job, nette Kinder; keine Vorerkrankung, kein Übergewicht, Hobbysportler. Ungeimpft. Seit 34 Tagen und 19 Stunden liegt er im künstlichen Koma, gespickt mit Kanülen und Schläuchen hängt er an der Lungenersatzmaschine, und „wenn Sie die abschalten, ist er in 30 Sekunden tot“. Immerhin, wer aufs Röntgenbild blicke, sehe nicht mehr, wie noch vor Tagen, nur „ein Schnitzel“, einen toten Fleischlappen; sondern tatsächlich wieder etwas, das einer Lunge gleicht. Der Mann wird vielleicht überleben.
Wer hier liegt, "hat im Frühjahr die falsche Entscheidung getroffen"
Für den Mann an der Ersatzlunge gilt dasselbe wie für fast alle, die derzeit auf der Corona-Intensivstation in Winnenden dämmern, sediert, angeschlossen an fiepsende Geräte, auf der Schwelle zum Tod: „Sie liegen bei uns“, ordnet Chefarzt Prof. Andreas Jeron ein, „weil sie im Frühjahr eine falsche Entscheidung getroffen haben“.
„Wir sind Retter und keine Richter“, sagt Jeron. Nur ist es halt „völlig unnötig“, all das geballte Leid. Im Jahr 2020 war eine schwere Covid-Erkrankung „ein Schicksalsschlag“ – derzeit landen fast nur noch Leute auf der Intensivstation, die sich „bewusst dafür entschieden haben“, auf eine Impfung zu verzichten. „Keiner von ihnen müsste hier sein und um sein Leben kämpfen.“
Nur schwer Übergewichtige, Steinalte, ohnehin Sterbenskranke? Sie hatten hier, zählt Oberärztin Jutta Franz auf, 40-Jährige, 45-Jährige, 52-Jährige, 57-Jährige, 62-Jährige, auch zwei Schwangere waren dabei, und „der Jüngste“, ergänzt Intensiv-Pfleger Stefan Gräter, „war 18“. Manche, sagt Jeron – selber groß gewachsen, spannkräftig, gertenschlank – „waren fitter als ich“.
Neulich an einem Sonntagnachmittag starben fünf: „Vier waren jünger als ich“, sagt Gräter, 57; „und alle waren ungeimpft.“ Nun gut, unlängst wurde tatsächlich mal eine Frau über 80 eingeliefert; doppelt gepikst und trotzdem in Nöten: Atem-Insuffizienz. „Nach 48 Stunden wurde sie auf die Normalstation verlegt, nächste Woche geht sie nach Hause.“
Die Behandlung dieser Krankheit ist "intellektuell langweilig"
Gäbe es nur Geimpfte, sähe Station 12 nicht aus wie ein Raumschiff. Es sind viel zu viele schwere Fälle, man kann nicht mehr jeden einzeln isolieren. Deshalb liegen die Leute hier offen beieinander; kaum Wände, keine Vorhänge. Man nennt das „Kohorten-Isolation“: Nicht dieses oder jenes Zimmer, sondern der ganze Bereich wird zur Quarantäne-Zone. Hier kommt niemand rein, der nicht aussieht wie ein Astronaut: Ganzkörperschutzmantel, Kopfhaube, Maske, Handschuhe, Plexiglas-Schild.
Bei einem normalen Intensivpatienten dauert es im Schnitt drei, vier Tage, bei einem Schwerverletzten auch mal eine Woche und länger, bevor er auf die Normalstation verlegt werden kann; ein schwerer Covidfall bleibt drei bis sechs Wochen: ein Dauerparkplatz zwischen Leben und Tod.
Diese Krankheit zu behandeln, „ist intellektuell völlig langweilig“, sagt Andreas Jeron. Man kann im Grunde nichts tun, als „Zeit zu kaufen“, wie Jutta Franz es ausdrückt: Man legt die Lunge mehr oder weniger still und hofft, dass die Entzündung zurückgeht. Gleichzeitig ist es eine „Materialschlacht“, sagt Stefan Gräter: „apparativ und pharmakologisch“ extrem aufwendig; und irrsinnig personalintensiv.
Eine Materialschlacht: Der Kampf um die Covid-Patienten
Ein Mensch erkrankt an Covid-19, gerät in Luftnot, das Blut enthält zu wenig Sauerstoff – im weiteren Verlauf kann die Lunge sich entzünden, im Extremfall kommt es zum Versagen der Atem- und Kreislauffunktion. Wenn die nichtinvasive Beatmung per Maskentherapie nicht mehr reicht, folgt die invavise Beatmung über ein Schlauchsystem; wenn auch das nicht mehr hilft, wird der Patient an die Lungenersatzmaschine angeschlossen: ECMO. Extrakorporale Membran-Oxygenierung.
Die Mediziner treiben zwei dicke Kanülen durch die Haut des Patienten in die größten Venen des Körpers. Drei bis fünf Liter Blut pro Minute werden durch die eine Kanüle aus dem Körper herausgeleitet, in der Maschine mit Sauerstoff angereichert und durch die andere Kanüle wieder in den Leib zurückgeführt.
Blick in Station 12: Alle liegen hier in tiefem künstlichen Schlaf. Den Beatmungspatienten muss die Luft förmlich reingepresst werden; das hielte niemand wach aus. Und so ist hier kaum ein Geräusch zu hören außer den Tönen aus all den Geräten – sie verbinden sich zu einer avantgardistischen Komposition, aus deren Rhythmus und Klang der Experte wohl Entwarnung oder Eskalation herauszuhören vermag.
Zum Medikamenten- und Infusionen-Cocktail, den ein einzelner Kranker braucht, gehören, ohne Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit: Blutverdünner, um Thrombosen zu verhindern; Sedativa, um die Betäubung aufrechtzuerhalten; Ernährung, intravenös oder via Magensonde; Abführmittel, um den erlahmenden Darm anzuregen; Antibiotika, falls sich auch noch eine Bakterien-Infektion auf die Covid-Erkrankung sattelt. Plus: Regelmäßige Lungenspiegelung, täglich ein Herzultraschall, alle paar Stunden eine Blutentnahme.
Zwei Tonnen Menschen, oder: "Corona ist ein Arschloch"
Aufgedunsen sind die Gesichter der Betäubten, geschwollen. Das kommt von der Bauchlage – sie hat sich als hilfreich herausgestellt: So werden die hinten am Körper liegenden, nicht mehr belüfteten Lungen-Areale wenigstens nicht auch noch durch die Schwerkraft des Körpers zusätzlich zusammengestaucht. Mit der Zeit aber strömt das Gewebswasser nach vorne, der Kopf beginnt auszusehen, als sei er in einen Wespenschwarm geraten. Ödeme und Druckgeschwüre können sich bilden.
Deshalb werden die Kranken immer wieder gewendet: vom Bauch auf den Rücken, vom Rücken auf den Bauch. Für jede dieser Umbettungen sind fünf Pflegekräfte nötig. Neulich, erzählt Stefan Gräter, hätten sie an einem Tag „zwei Tonnen Mensch gedreht“.
Wer kommt durch? Wer nicht? Die Krankheit schlägt Haken, die Wende kommt „oft überraschend“, sagt Jutta Franz. Sie hatten hier einen 38-Jährigen, er war „unser bester Patient“, erinnert sich Gräter: Der Körper fand heraus aus schwerer Not, was für ein Erfolg! Dann kam die Lungenembolie; der Mann war „nicht mehr zu retten“. Andere haben „ein schreckliches CT“ und schaffen es doch. „Man muss mit allem rechnen“, sagt Jutta Franz. „Corona ist ein Arschloch.“
Späte Einsicht: Corona ist real, Corona gibt es wirklich
Manchen steht, wenn sie – teilweise noch aufrecht gehend – die Klinik betreten, die Todesangst schon ins Gesicht geschrieben: Sie spüren die Atemnot, die Luft versiegt, ihnen wird immer brutaler bewusst, worum es jetzt geht. Man kann hier „35 Jahre alte gestandene Männer“ sehen, „die weinend auf dem Bauch liegen und sich Vorwürfe machen“, wenn die „Scheinwelt auf Facebook“ zusammenbricht: Warum nur habe ich den Mist geglaubt? Corona gibt es ja wirklich, das ist ja gar keine Grippe und keine Panikmache, keine von Bill Gates erfundene Plandemie! Manche betteln, wenn sie gewahr werden, dass es nun „um ihr Leben“ geht, ob man sie nicht bitte doch noch impfen könne, ganz schnell, damit das aufhört. Nur ist es dafür jetzt zu spät.
Faustregel: 30 Prozent der Menschen, die so schwer erkranken, dass man sie invasiv beatmen muss, werden sterben. „Wir sind an Abschiede gewöhnt“, sagt Jutta Franz, „wir können mit dem Tod umgehen“. Aber wenn ein 40-Jähriger, bevor er sediert und intubiert wird – bevor er sich in den Beatmungsschlaf versetzen lässt, aus dem er mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht zurückkehren wird –, ein letztes Telefonat mit seiner Frau führt oder dem Sohn, der Tochter, dann sei das vor allem für jüngere Pflegekräfte „furchtbar belastend“.
Wer durchkommt, wird „lange, lange Zeit danach Schwierigkeiten“ haben. Ein 60-Jähriger, der vier Wochen ECMO hinter sich habe, werde vermutlich dauerhaft arbeitsunfähig bleiben. Bei Jüngeren dürften sich die Genesungsprozesse über viele Monate, manchmal wohl Jahre hinziehen.
Bitte kommt! Ein Aufruf an die Bevölkerung
Es weihnachtet sehr; hier ein Adventskranz am Empfang, da eine Zweig-Girlande über der Tür, dort Gestecke und Kerzen auf Fenstersimsen: Die Corona-Intensivstation sieht aus, als hätten alle Mitarbeiter Zeit in Reichtum und Fülle, um Besinnlichkeit hingebungsvoll zu zelebrieren. Kein Zufall, sagt Jutta Franz, dass es hier so aussieht – die Dekoration sei ein „wichtiges Symbol“ dafür, dass „wir auch nach uns selber schauen“: Teamwork pflegen, einander tragen, füreinander einstehen, nicht aufgeben.
Auch wenn die Belastung „wirklich enorm“ ist, wie Gräter sagt, „physisch und psychisch“; auch wenn alles „auf Kante genäht ist“ und sie manchmal „mit den Betten jonglieren“ müssen; auch wenn sie, wie alle Kliniken, im Lauf des Jahres „erhebliche personelle Verluste“ erlitten haben, weil Leute den Beruf verließen oder in Teilzeit gingen; auch wenn sie derzeit immer noch dabei sind, den „Urlaub von 2019 abzubauen“ – eines ist ihnen sehr wichtig, man solle das bitte betonen, diese „Message“ gehöre unbedingt in die Zeitung ...
Die ganz normalen Patienten, der Mann mit dem Verdacht auf Herzinfarkt, das Mädchen mit dem gebrochenen Bein – sie alle können, dürfen, sollen bitte weiterhin kommen! „Wir können nicht sagen, wir nehmen die Reanimation im Schockraum nicht mehr an“, sagt Stefan Gräter, und „wir wollen das auch nicht sagen!“ Corona hin oder her: Allein gestern früh hätten sie drei Menschen mit Herzstillstand „lege artis versorgt“, nach dem Stand der ärztlichen und pflegerischen Kunst. Covid hü oder hott: Nebenbei befinden sie sich derzeit mitten im Zertifizierungsprozess zum „Cardiac Arrest Center“, zum Exzellenzzentrum bei der Versorgung von Herzpatienten.
„Wir haben noch niemand verlegen müssen“ in ein anderes Krankenhaus, sagt Andreas Jeron, „und wir werden das auch nicht. Nur ein Beatmungsgerät und zwei Leute, die es brauchen? Das gibt’s nicht“; nicht hier.
„Wir sind Versorger für den ganzen Landkreis“, sagt Jutta Franz, nicht nur für Coronakranke. Ja, es stimmt, „wir sind total belastet. Aber wir sind nicht gewillt, es nicht zu schaffen!“
Von der Wut und von der Dummheit
Er denke nicht daran, aufzugeben, sagt Stefan Gräter. Aber es gebe Abende, da sei er „nur noch wütend“. Da hat man sich wieder mal, gekleidet wie ein Astronaut, in die Materialschlacht gestürzt, wieder mal zwei Tonnen Mensch gedreht, wieder mal mit dem Tod Schach gespielt um all die Leben, wieder mal hier einen Halbgesundeten auf die Normalstation entlassen dürfen, da für einen zwischen Dies- und Jenseits Hängenden einen weiteren Tag in der Schwebe rausgeschunden, dort einen Menschen sterben sehen müssen – und dann kommt man spätabends heim, hat endlich Feierabend, und nun gibt es gratis und on top zu all den Mühen als Zugabe eine Ladung hirnverbrannten, kreuzdummen, vollidiotischen Schwachsinn: Ein Facebook-Post geht um, dass das ja alles gar nicht stimme. Es gebe überhaupt keine Covid-Schwerkranken in der Winnender Klinik. Das seien „lauter Schauspieler“, die da liegen.
Diesen Leuten, sagt Gräter, würde er am liebsten einen „Volkshochschulkurs“ anbieten: „Begehung der Coronastation“.