Corona-Impfung für Kinder? Ralf Brügel, Kinderarzt aus Schorndorf, wägt sehr vorsichtig das Für und Wider ab

Wäre es nicht dringend notwendig, Kinder und Jugendliche gegen Corona zu impfen? Dann wäre das Infektionsrisiko in dieser bisher mit am ärgsten gebeutelten und reglementierten Gruppe eliminiert. Endlich könnten die Jungen und Jüngsten wieder Freunde treffen, in die Schule gehen, Sport treiben. Sollte man die Kinder und Jugendlichen daher nicht sogar priorisieren, sie vor so manchem Erwachsenen impfen?
Man erzählt sich, dass Kinderärzte im Rems-Murr-Kreis diesem Impfbegehr schon nachkämen. Wer das sein soll, ist unbekannt – das Gerücht trifft allerdings den Nerv vieler Familien. Auch Landrat Richard Sigel fand die Impf-Überlegung bedenkenswert. Und fragte beim Sprecher der Kinder- und Jugendärzte im Rems-Murr-Kreis Dr. Ralf Brügel, Schorndorf, nach.
Die Kinderärztinnen und -ärzte sind sich uneins
Der allerdings schluckt bei dieser Frage: Denn sie sei, sagt er, sehr schwer zu beantworten. Er ist sich selbst noch nicht schlüssig, was er richtig findet. Und er sagt, dass die Meinungen unter seinen Kolleginnen und Kollegen wahrlich geteilt sind.
Ralf Brügel führt mehrere Überlegungen an, die, das betont er, in diesem Fall nur seine eigenen sind. Er spricht nicht für die gesammelte Ärzteschaft im Kreis. Und er verwahrt sich dagegen, dass auch nur eine einzige seiner Aussagen von Querdenkern oder Impfgegnern vereinnahmt wird. Keine dieser Gruppen will er argumentativ unterstützen. Er argumentiert als Arzt.
Bislang ist der Impfstoff von Biontech für Jugendliche ab 16 zugelassen
Fakt ist: Der Impfstoff von Biontech ist bislang ab dem Alter von 16 Jahren zugelassen. Sollten Kinderärzte tatsächlich schon jetzt Kinder und Jugendliche unter 16 impfen, dann passiert das außerhalb des Regulariums und auf eigene Gefahr.
Wenn alles so kommt, wie Biontech plant, dann wird der Impfstoff im Juni oder Juli für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen werden. Bis Babys ab sechs Monaten gegen Corona geimpft werden können, wird 2021 vermutlich vergangen sein.
Den Impfstoff auf Kinder und Jugendliche zuzuschneiden, sei, sagt Brügel, ein großes Problem. „Kinder brauchen eine niedrigere Dosis.“ Doch wie diese Dosis portioniert sein müsse, das wisse man nicht genau. Normalerweise dauere diese Entwicklung viele Jahre.
Unstrittig ist: Nach einer Zulassung für Jüngere müssen Kinder mit schweren Vorerkrankungen geimpft werden
Wenn der Impfstoff zugelassen ist, dann sei es unstrittiger Konsens, sagt Brügel, dass Kinder mit schweren Vorerkrankungen gegen Corona zu impfen seien. Doch schon da wird’s wieder schwierig. Denn die Frage ist, welche Vorerkrankung das Risiko, an Corona schwer zu erkranken, gar zu sterben, so hochtreibt, dass sie eine Impfung rechtfertigt. Alldieweil Kinder und Jugendliche in den allermeisten Fällen eine Corona-Infektion problemlos überstehen. Brügel nimmt das Beispiel Diabetes: Während ein 70-jähriger Diabetiker ein sehr hohes Risiko hat, schwerstens an Corona zu erkranken und gar zu sterben, sind jugendliche, gut behandelte Diabetiker kaum gefährdet. Ihre Körper sind von der Grunderkrankung noch lange nicht so schwer mitgenommen wie der Körper des 70-Jährigen. Das Gleiche gelte, sagt Brügel, für Asthmatiker: Junge Asthmatiker seien meist medikamentös so gut eingestellt, dass ihre Lunge topfit sei. Ganz anders als Senioren mit Asthma, die früher womöglich noch überhaupt nicht behandelt worden waren. Gegen diese unterschiedlichen Erkrankungsrisiken müssen dann das Impfrisiko und der Impfnutzen gestellt werden. Es ist eine Rechnung, es ist Statistik – wie die individuelle Geschichte tatsächlich verläuft, weiß man vorher nie.
Mit eingebracht in die Debatte um die Impfung der Kinder und Jugendlichen wird das Argument der Herdenimmunität. Die Herdenimmunität ist erklärtes Ziel in Deutschland: Ursprünglich ging das Robert-Koch-Institut davon aus, dass eine Durchimpfungsquote von 60 Prozent reichen würde, um diesen gesellschaftlichen Schutz zu erreichen und Massenausbrüche damit zu verhindern. Inzwischen geht das Institut allerdings davon aus, dass es mindestens 70 bis 80 Prozent sein müssen.
Darf man Kinder wegen des gesellschaftlichen Nutzens impfen?
Eine Impfung im Hinblick auf Herdenimmunität dient weniger dem individuellen als dem gesellschaftlichen Nutzen. Das individuelle Impfrisiko zählt wenig im Ringen um eine gesamtgesellschaftliche Lösung des Problems. Darf man, muss man Kinder dafür heranziehen? „Ich bin kein Epidemiologe“, sagt Brügel. Aber er findet, dass Kinder nicht nur geimpft werden sollten, um Herdenimmunität zu erreichen.
Ihn treibt allerdings noch die Frage nach der gesellschaftlichen Teilhabe um: Wenn Geimpfte und Genesene Freiheiten zurückbekommen – was erwartet dann die Kinder und Jugendlichen, die noch nicht geimpft werden können? Bei denen in Hinblick auf die persönliche Nutzen-Risiko-Bewertung eine Impfung eventuell nicht angebracht ist? Müssen sie auf ewig allein im Home-Schooling sitzen bleiben, dürfen sich, wenn andere längst wieder Partys feiern, immer noch nicht mit Freunden treffen? Wird man impfen, um den Kindern und Jugendlichen wieder ein normales Leben zu ermöglichen? Womöglich trotz eines im Verhältnis zum gesundheitlichen Nutzen unverhältnismäßig hohen Impfrisikos? Die politischen Entscheidungen hierzu seien, sagt Brügel, noch nicht gefallen. Was bei dieser Diskussion herauskommt, wird die Frage, ob Kinder und Jugendliche gegen Corona geimpft werden sollen, maßgeblich beeinflussen. Womöglich aber sei die Impfentscheidung dann nicht mehr wirklich frei.