Rems-Murr-Kreis

Das Rad erobert sich die Straße zurück

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Thomas Grau, rechts, stimmt die Freitagabend-Radler des ADFC am Bürgerzentrum Waiblingen auf die Tour ein und nennt nochmals die wichtigsten Regeln für das Fahren in der Gruppe. © Winterling / ZVW

Waiblingen. Autos betrachten den Asphalt als ihr eigens für sie geschaffenes Revier. Fahrräder sind bloß lästig. Geschichtlich betrachtet wird umgekehrt ein Schuh draus: In den 1920er Jahren wurden Straßen zunächst für die vielen Radler asphaltiert, um sie von der Qual der Kopfsteinpflaster zu erlösen. Das Rad erobert sich langsam die Straße zurück. Bei der Radsternfahrt am Sonntag nach Stuttgart heißt das Motto: „Fahrrad statt Feinstaub“.



Abgesperrte Straßen, wie sie die Radler bei der Sternfahrt am Sonntag von Schorndorf und Backnang/Winnenden über Waiblingen nach Stuttgart haben werden, hatten die Radler des ADFC bei ihrer freitagabendlichen Feierabendtour nicht. Der Aufmerksamkeit der Passanten konnte sich die rund 20-köpfige Gruppe auf ihrer rund 25 Kilometer langen Tour von Waiblingen durchs Remstal hinauf zum Karlstein oberhalb von Strümpfelbach dennoch gewiss sein. Die bunte Schar der Teilnehmer der Feierabendtour saß auf gemütlichen Klapp- oder sportlichen Rennrädern, auf chromblitzenden Tourenoldtimer oder schicken E-Bikes.

Rechte der Radfahrer wurden erheblich eingeschränkt

Während wir uns abseits der großen Straßen über Feld-, Wald- und Wiesenwege schlängelten, erzählte Andreas Schwager vom ADFC Waiblingen die Geschichte der Asphaltstraßen. Vor 100 Jahren gehörten die Straßen noch fast ausschließlich den Radlern – und sie waren in weit größerer Zahl als damals die wenigen Automobile unterwegs. Gleichwohl haben die Nationalsozialisten ab den 1930er Jahren die Radfahrer von den asphaltierten Straßen auf Radwege verbannt, um den von ihnen propagierten Kraftverkehr zu fördern. Bis heute wirkt der Geist der von den Nazis in die damalige Reichs-Straßen-Verkehrsordnung geschriebenen Paragrafen nach. Und die Automobillobby schränkt die Rechte der Radfahrer, Reiter und Fußgänger, die Straßen zu benutzen, erheblich ein.

Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) hat sich auf die Fahnen geschrieben, den Radverkehr zurück auf die Straße zu bringen. Und zwar sicher. Denn Radfahrer fühlen sich in der Verkehrswelt als das berüchtigte „fünfte Rad am Wagen“, dem in der Planung viel zu selten und wenig Beachtung geschenkt wird. Die Liste der Mängel ist schier endlos, die Andreas Schwager aufzählen kann, wenn er erst mal in Schwung ist. Das beginnt mit den tückischen Pfosten, die die Autos vor der Einfahrt abhalten, aber für Fahrer in der Gruppe oder einen Radfahrer in der Nacht zur tückischen Gefahr werden. Im Gewimmel einer Gruppe wird der Pfosten schlicht übersehen – und des Nachts ist er kaum zu erkennen. Dabei gibt es Plastikpfosten, die abknicken und so zumindest die Folgen einer Kollision für den Radler mindern, schimpft Schwager über die Ignoranz in den Bauämtern, wenn wir Radler – vom Vordermann gewarnt – rechts und links an einem Pfosten vorbeiflitzen.

Viele Mitglieder, aber wenig aktive Radfahr-Lobbyisten

Fast 900 Mitglieder zählt der ADFC im Rems-Murr-Kreis. Aktiv für die Interessen der Radfahrer sind vielleicht zwei Handvoll. Freitag für Freitag treffen sich aber viele Radler – ob Mitglied oder nicht – zu den Feierabendtouren, die in Waiblingen und Schorndorf stattfinden.

Ende Mai sammelten sich vor dem Bürgerzentrum in Waiblingen fast 50 Radler, die sich in zwei Gruppen teilten. Die Sportlichen spulten in knapp drei Stunden fast 50 Kilometer herunter. Die Gemütlichen – genannt: Tranquillo – unter der Führung von Thomas Grau strampelten 25 Kilometer zum Karlstein hoch und ersparten sich nach dem Blick auf die Uhr und den VfL-Biergarten in Waiblingen vor dem geisteigen Auge den Umweg über den Schurwald. Thomas Grau hat vor vielen Jahren seine erste Tour geführt– und hat immer noch Spaß dabei. Je nach Wetter kommen freitags 30 bis 50 Teilnehmer und genießen das Radeln in der Gruppe.

Wenig zu meckern: Wege sind passabel ausgezeichnet

Wer am Wochenende oder abends mit dem Rad zum Spaß unterwegs ist, kann über die Radweginfrastruktur zwischen Rems und Murr nicht wirklich meckern. Die Wege sind passabel ausgezeichnet; Biergärten, Freibäder oder Badeseen sind gut zu erreichen. Dass Räder in den S-Bahnen und Regionalzügen in Baden-Württemberg kostenlos mitgenommen werden, ist nicht in jedem Verkehrsverbund und nicht in jedem Bundesland so.

Wer aber mit seinem Fahrrad zur Arbeit oder Ausbildungsstätte fährt, ist oft genug aufgeschmissen. Durchgängige Radwege fehlen, mit denen der Pendler schnell und sicher von A nach B kommt. Wer auf die Straßen ausweicht, wird von Autofahrern empört weggehupt. Viele Radwege sind für sportliche Radler auf ihren Rädern mit schmalen Reifen jedoch unzumutbar.

Städte ersticken in Lärm und Dreck der Autos

Die Situation der Radler verbessert sich – langsam. Es sind bauliche und verkehrstechnische Vorgaben für benutzungspflichtige Radwege definiert. Die sind aber in vielen Bauämtern gar nicht bekannt, hat Andreas Schwager bei seinen Gesprächen mit Ämtern festgestellt, die den ADFC mit seinem Know-how zurate ziehen. Vielerorts sind Einbahnstraßen für das Rad freigegeben. Das grün geführte Landesverkehrsministerium versucht, die Ampeln für den Radweg auf Grün zu stellen. Angestrebt wird ein flächendeckendes, durchgängiges Netz alltagstauglicher Fahrradverbindungen zwischen Mittel- und Oberzentren entlang der wichtigsten Siedlungsachsen im Land. Auch im Rems-Murr-Kreis wird an solchen Verbindungen getüftelt.

Das Fahrrad ist weit mehr als ein Vehikel für Sport und Freizeit. Über die Hälfte der in einer Stadt zurückgelegten Wege betragen weniger als fünf Kilometer und sind ideal mit einem Rad zu bewältigen. Mit elektrischem Rückenwind eignen sich Räder auch für längere Strecken. Vor fast 100 Jahren haben die Autos die Räder von den Straßen vertrieben. Die Städte ersticken heute in deren Lärm und Dreck. In der Verkehrspolitik gibt es keine Win-win-Situation für den Rad- und den Autoverkehr, weiß Andreas Schwager. Bessere Radwege gehen zwangsläufig auf Kosten der Straßen für Autos. „Fahrrad statt Feinstaub“, heißt das Motto der Radsternfahrt nach Stuttgart.


Sieben Radwege sind aktuell geplant

Der Landkreis Rems-Murr hat in seinem jüngsten Kreisstraßenmaßnahmenplan 2018-2021 erstmals die Radwege im Blick und eine Liste von sieben Wegen für Fahrradfahrer erstellt, darunter die Radwege Beutelsbach-Aichelberg und Höfen-Hertmannsweiler. Die Schwierigkeit für ein vernünftiges Konzept ist jedoch, dass viele Köche den Radnetz-Brei verderben. In vielen Rathäusern ist das Rad noch nicht erfunden. Eine Radwegkoordinatorin soll ab Oktober im Landratsamt die Fäden zusammenführen.

Das Land wiederum plant ganz ambitioniert Radschnellverbindungen, die Radfahrern eine attraktive Möglichkeit bieten, längere Strecken zügig und sicher zurückzulegen.

Gefördert werden lokale Machbarkeitsstudien, wie zum Beispiel ein Radschnellweg zwischen Schorndorf und Waiblingen sowie zwischen Waiblingen und Ludwigsburg, sowie drei Pilotstrecken, darunter Esslingen–Stuttgart.

„Bei konventionellen Radwegen wechselt die Verwaltungszuständigkeit für Bau und Unterhaltung häufig zwischen den anliegenden Kommunen, Land und Bund“, so das Landesverkehrsministerium über die Radschnellverbindungen. „Dadurch entstehen Verzögerungen und die Qualität ist oft uneinheitlich. Um bei Radschnellverbindungen durchgehend attraktive Verbindungen zu gewährleisten, müssen Umsetzung, Erhaltung und Unterhaltung in einer Hand liegen.“