Rems-Murr-Kreis

Ein Tag in der Kinderklinik Winnenden: Geschichten von Glück, Not und den Stolperfallen des Systems

Ein Tag in der Kinderklinik
Untersuchung eines Neugeborenen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Winnenden. © ALEXANDRA PALMIZI

Die Kleinsten hier wiegen 400 Gramm. Wer sich einen Tag in der Winnender Klinik für Kinder- und Jugendmedizin umschaut, beginnt zu begreifen, wie segensreich der einst hochumstrittene Neubau ist, gewinnt aber auch Einblicke in die Absurditäten des Gesundheitssystems. Geschichten von existenziellen Sorgen, glücklich machenden Erfolgserlebnissen und dem Fehlanreiz der Mindestmenge.

Neuaufnahmen: Ein ganz normaler Klinikmorgen in Winnenden

Morgenbriefing kurz nach acht, 13 Leute in einem Raum: Beamer werfen Bilder an die Wand, EKG, Sonografien – hier die Pneumonie mit „noch relativ deutlichem Befund“, aber „guter Belüftung des linken Oberfeldes“, da die Bewegtaufnahme eines Zwerchfells. „Diffusionsgestörte Areale“, „flüssigkeitsisointense Signale“, „Entzündungswerte“: Bestandsaufnahme, Diskussion der Befunde, Fachjargon.

In die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, erklärt Chefarzt Prof. Dr. Ralf Rauch, kommen Patienten bis 18 Jahren, „egal, was sie haben“. Es gibt 65 Betten, 13 davon mit dem Vorsatz „Intensiv-“. 25 Ärzte arbeiten hier, gut 100 Pflegekräfte, dazu Erzieherinnen und Erzieher. Denn zum Alltag in der Kinderklinik gehört auch für die Kleinen ein Spielzimmer, 50 Quadratmeter mit Fachpersonal, und für die Größeren eine Klinikschule. In Winnenden werden Säuglinge behandelt, kranke und verletzte Kinder, Jugendliche mit Ess- oder Angststörungen, das Frühchen, leicht wie ein Vogel, der adipöse Pubertierende, der 150 Kilo auf die Waage bringt.

Das Morgenteam geht die Spätdienstaufnahmen aus der Nacht durch: ein 14-Jähriger mit rechtsseitigen Hodenschmerzen; ein Mädchen, anderthalb, mit 40 Grad Fieber; eine 17-Jährige mit Asthma und Borderline-Syndrom; ein Zehnjähriger mit Verdacht auf Schädelfraktur nach einem Sturz mit dem Roller; ein Zwölfjähriger mit blutigen Durchfällen – Colitis ulcerosa, eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung? Eine 16-Jährige aus der Ukraine: Weil sie es in der Flüchtlingsunterkunft nicht mehr aushielt, schluckte sie einen Medikamentencocktail, um sich das Leben zu nehmen.

Oder das Neugeborene mit Entzugserscheinungen, aus einer anderen Klinik nach Winnenden überstellt zur optimalen Versorgung: Als die Mutter, schwer drogenabhängig, das Kind zur Welt brachte, standen zwei Frauen vom Jugendamt bereits im Kreißsaal, um die 2600 Gramm Mensch direkt nach der Geburt in Obhut zu nehmen.

18 Neuaufnahmen: Ein normaler Tag mit typischer Bandbreite, sagt Rauch. „Und morgen wieder.“

Warum der Neubau in Winnenden ein Segen ist

Vor vielen Jahren arbeitete er in einer Klinik, wo ein „unterirdisches Labyrinth“ von der Frauenklinik in die Säuglingsstation führte. Im Freien waren es 300 Meter. Also parkte Ralf Rauch draußen ein Fahrrad. Wenn es eilte, setzte er eine Krankenschwester auf den Gepäckträger und strampelte von A nach B. In Winnenden liegt all das „Wand an Wand. Kein Aufzug, keine weiten Wege“. Um sich fit zu halten, muss er jetzt nach Dienstschluss joggen.

Rauch, heute 56, studierte in München und Lausanne, arbeitete in Erlangen und Tübingen; schließlich landete er in Kanada und hatte eigentlich kein Bedürfnis, sich beruflich zu verändern. Als ihm ein Bekannter erzählte, dass Waiblingen einen Chef für die Kinderklinik suche, antwortete Rauch: „Was hat das mit mir zu tun?“ Aber gut, er traf sich mit einem Headhunter in Hamburg und ließ sich breitschlagen, das Waiblinger Krankenhaus zu besichtigen. Es „sah zum Davonlaufen aus“. In diesem Altbau auf Dauer arbeiten? „Auf keinen Fall.“

Was ihn letztlich doch überzeugte, war die Aussicht auf vollkommen andere, hochmoderne Bedingungen: die Chance, etwas Neues mit Leben zu füllen. Im Juli 2011 begann er in Waiblingen – bis zum Umzug 2014 nach Winnenden schaute er sich regelmäßig sehnsüchtig die Webcam-Aufnahmen vom Baustellen-Fortschritt an.

Rauch gehört zu einer Spezies, die bisweilen flapsig als Starmediziner bezeichnet wird. Beim Morgenbriefing aber hat er auffallend wenig geredet, meist nur zugehört. „Ein Chef, der ständig über alle drüberwalzt“, antwortet Rauch, darauf angesprochen, „wird bei jedem Quatsch gefragt“ – er wolle seine Leute zur „Selbstständigkeit führen“. Gute Kräfte zu gewinnen und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen, gehöre zu seinem Job. Er sei früher „Mittelfeldspieler gewesen“, er müsse nicht „wie Ronaldo alle Tore selber schießen. Ich freue mich, wenn wir gewinnen“.

Die Gastroenterologin Femke Piersma hatte an der Uni-Klinik in Tübingen einen befristeten Vertrag. Rauch wusste: „Sie ist nicht nur mit dem Endoskop gut“, sondern kennt die komplexen diagnostischen und therapeutischen Tücken bei der Behandlung von Kindern mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Im Wachstumsalter sei das eine „völlig andere Liga“ als bei 60-Jährigen. „Nach jahrelangem Stalking“ habe er es geschafft, Piersma „abzuwerben“.

Als Rauch 2011 kam, gab es in der Waiblinger Kinderklinik zwei Oberärzte, heute in Winnenden sind es elf, die meisten hoch spezialisiert, von der Kinder-Radiologie über die Neuropädiatrie bis zur Diabetologie. Der Neubau „ist ein absolutes Pfund, mit dem man wuchern kann“.

Hanna: Frühchen und das Prinzip der "Mindestmenge"

Hanna ist drei Monate alt: geboren am 1. November 2022. Ihr errechneter Geburtstermin: 18. Februar 2023. Als Hanna zur Welt kam, wog sie 422 Gramm.

Ihr Vater sitzt bei ihr am Bett. Mal übernimmt er den Vormittag und seine Frau den Nachmittag, mal umgekehrt, zusammengezählt verbringen sie täglich „zwischen sechs und zehn Stunden hier“. Das muss ihr Leben doch drastisch verändert haben? Nun gut, sagt der Vater, das Leben der Eltern zu verändern, „das macht ein Kind sowieso“. Für Hanna da zu sein, sei einfach etwas, „das wir nun in unser Leben einfügen“. Und regelmäßig schaut Diana Dottermusch vorbei – sie habe „goldene Hände“, sagt Rauch –, um mit Hanna Physiotherapie zu machen: Die Expertin drückt auf Körperzonen, regt Bewegungen, Atmung, Muskulatur an.

Die Winnender Kinderklinik firmiert als „Perinatalzentrum Level 1“: Mehr geht nicht, oberstes Regal; qualifiziert, um auch kleinste Frühchen zu behandeln. Um den Standard zu behalten, müssen sie jährlich eine „Mindestmenge“ erfüllen. 2022 waren 14 Neugeborene unter 1250 Gramm die Vorgabe. Rauchs Team kam auf etwa 30.

Die Regel gehorcht durchaus einer Logik: Eine Einrichtung, die oft solch eine komplexe Herausforderung meistert, baut einen Erfahrungs- und Kompetenz-Schatz auf. Ein Haus, das sich nur alle Schaltjahre mit einer derartigen Aufgabe konfrontiert sähe, wäre überfordert. Nur: Die gesundheitspolitische Festlegung einer Mindestmenge führt auch in ein „ethisches Dilemma“, sagt Rauch.

Ein "völliger Fehlanreiz": Ralf Rauch, Roma Mas und die Frühgeburten-Logik

Denn es ist doch die „Königsdisziplin“, genau solche Frühgeburten zu verhindern, hinauszuzögern! In Winnenden zum Beispiel gebe es „eine grandiose Dame aus Barcelona“: Dr. Roma Mas, leitende Oberärztin der Geburtshilfe, „hat unglaubliche Geduld und stählerne Nerven, wenn es darum geht, wackelnde Schwangerschaften zu begleiten“. In einem Fall, da manche glaubten, es sei unausweichlich, den Geburtsvorgang in der 22. Woche einzuleiten, sei es der Ärztin gelungen, dem Kind sieben weitere Wochen im Mutterbauch zu schenken. Sieben Wochen: Das ist ein Unterschied ums Ganze, zwischen „Hochrisikomedizin“ und sehr guten Zukunftschancen für das Kind.

Nur: Wenn Roma Mas ihren Job gut macht, kann es passieren, dass ein Kind bei der Geburt zu schwer ist, um in der Mindestmengen-Statistik zu landen. Und wenn am Jahresende ein Frühchen unter 1250 Gramm zu wenig in der Tabelle steht, entpuppt sich der medizinische Segen als betriebswirtschaftlicher Fluch: Der Status „Perinatalzentrum Level 1“ geht flöten. Ein „völliger Fehlanreiz“, sagt Rauch.

Für 2023 wurde die geforderte Mindestmenge auf 20 erhöht, 2024 ist gar 25 die magische Marke. Man stelle sich vor, Winnenden verlöre, weil Roma Mas so ein Glücksfall für Schwangere ist, seinen Status: Es wäre ein kafkaesker Auswuchs gesundheitspolitischen Steuerungswahnsinns. (Mehr zu den Tücken der Krankenhausfinanzierung finden Sie hier.)

Trost: Es sieht momentan nicht danach aus. Etwa 2500 Kinder kommen in der Winnender Klinik jährlich zur Welt, weitere 700 in Schorndorf, dazu 800 in der St.-Anna-Klinik Cannstatt; um die Frühgeborenen aller drei Standorte kümmert sich Team Rauch.

Die Polizei, die Feuerwehr und die Klinik in Winnenden

Wann immer ein Journalist mit Klinikpersonal redet, wird irgendwann unausweichlich die immer gleiche grundsätzliche Frage aufploppen: Wozu das alles – um Menschen zu helfen oder um rentabel zu sein?

Allein die Tatsache, dass wir diese Frage überhaupt stellen müssen, zeigt, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist im System. „Polizei oder Feuerwehr“ machen doch „auch keinen Gewinn“, sagt Rauch.

Rein „ökonomisch“ seien er und sein Team gewiss nicht die Heilsbringer für die Rems-Murr-Kliniken. „Wir bauen keine Hüften ein“ und in der Regel auch keine Herzschrittmacher, „vieles in der Kinderheilkunde ist Gespräch“, habe mit „Spüren“ zu tun.

Sicher, zum Alltag in der Kinderklinik gehört der Transport-Inkubator für Säuglinge, 25.000 Euro teuer, mit Beatmungsgerät, Monitor, Absaugung, Infusomat. Womöglich wird es sich amortisieren. Zum Alltag gehört aber auch, dass manchmal drei Leute eine Stunde lang damit zugange sind, einem Kind Blut abzunehmen, weil es sich wehrt oder keine Vene zu finden ist – dafür sieht keine Fallpauschalen-Abrechnungstabelle einen Zuschlag vor.

Einnahmen bringt im Zweifel hoch spezialisierte Operativmedizin unter Einsatz moderner Technik (Hintergründe dazu auch hier). Aber segensreich sind in Winnenden auch drei sturznormale Gefrierschränke. Sie enthalten Spenderinnenmilch für Neugeborene, deren Mütter aus welchen Gründen auch immer gerade nicht selber stillen können. Warum keine künstliche, keine Industriemilch? „Weil Frauenmilch einfach viel besser ist“, berichten Dr. Janaina Rauch und die Schwester Susann Bucksch, zuständig für die „Frauenmilchbank“ an der Kinderklinik. Echte Milch trage zu einer besseren kognitiven Entwicklung bei und beuge Diabetes vor. „Es gibt Dinge“, bestätigt Ralf Rauch, „die man in der Industrie nicht einfach nachzaubern kann.“

Zehn Kilo: Teodora schaut vorbei

Ja, sie haben mit Sorgen zu kämpfen, mit Not und manchmal mit Trauer. Dass Menschen sterben, „ist auch in der Kinderklinik nicht wegzuquatschen“, sagt der Chefarzt. Aber eine gängige Faustregel – in einem Krankenhaus stirbt pro Bett und Jahr ein Patient – gilt hier nicht. Dieser Beruf, sagt Rauch, „ist schön!“ Er berge „viele Erfolgserlebnisse“.

Insofern ist dies die Szene des Tages: Ein Vater schaut vorbei in der Klinik – er wolle einfach mal wieder Hallo sagen. Auf dem Arm trägt er seine Tochter. Mit 1020 Gramm kam sie zur Welt. Jetzt, sagt der stolze Papa, wiegt Teodora „zehn Kilo“.

Die Kleinsten hier wiegen 400 Gramm. Wer sich einen Tag in der Winnender Klinik für Kinder- und Jugendmedizin umschaut, beginnt zu begreifen, wie segensreich der einst hochumstrittene Neubau ist, gewinnt aber auch Einblicke in die Absurditäten des Gesundheitssystems. Geschichten von existenziellen Sorgen, glücklich machenden Erfolgserlebnissen und dem Fehlanreiz der Mindestmenge.

Neuaufnahmen: Ein ganz normaler Klinikmorgen in Winnenden

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