Potenziell gefährlich? Wie die Chemikalien-Funde im Rems-Murr-Grundwasser zu bewerten sind

Die Auswirkungen von Ewigkeitschemikalien (PFC/PFAS) auf Umwelt, Natur, Mensch und Tier sind längst nicht ausreichend erforscht. Beweise für Gesundheitsgefahren gibt es bislang nur für einige: Sie gelten als krebserregend, immunschwächend und könnten sogar schwere Covid-19-Verläufe fördern. Im Rems-Murr-Kreis hat die Landesanstalt für Umwelt Ewigkeitschemikalien nur im geringfügigen Nanogramm-Bereich im Grundwasser nachgewiesen. Aber auch welche der gefährlicheren.
„Grundsätzlich sind PFAS ubiquitär in der Umwelt vorhanden, auch im Boden und Grundwasser finden sich flächendeckend Spuren davon“, sagt Tatjana Erkert, Sprecherin der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW). Ubiquitär bedeutet „überall verbreitet“. Eine Bewertung der PFAS-Belastung vor Ort erfolge derzeit anhand der sogenannten Geringfügigkeitsschwellenwerte (GFS-Werte), bei deren Überschreitung eine schädliche Grundwasser-Beschaffenheit oder schädliche Bodenveränderung vorliegen würde.
Landesweit etwa 5000 Grundwasserproben aus etwa 2200 Grundwasser-Mess-Stellen
Abseits von konkreten Schadensfällen – wie im Landkreis Rastatt, wo Anfang der 2010er Jahre aus PFC-belastetem Papierschlamm hergestellter Kompost von Landwirten auf Feldern verteilt worden sein soll – würden in Baden-Württemberg gemäß gemachter Untersuchungen durch die LUBW die GFS-Werte im Grundwasser eingehalten, sagt Tatjana Erkert.
Wie am 24. Februar berichtet, hat auch das Landratsamt, bei dem die Untere Umweltbehörde angesiedelt ist, erklärt, bislang seien bei regulären Grundwasser-Untersuchungen im Rems-Murr-Kreis PFC/PFAS lediglich unterhalb der GFS-Werte gefunden worden.
Im Auftrag des Landes Baden-Württemberg werden landesweit jährlich etwa 5000 Grundwasserproben aus etwa 2200 Grundwasser-Mess-Stellen entnommen und untersucht. Zwischen 2015 und 2018 hatte die LUBW auch an 52 Mess-Stellen der LUBW und 179 Mess-Stellen des Kooperationsmessnetz Wasserversorgung im Rems-Murr-Kreis das Grundwasser auf PFC/PFAS beprobt. Lediglich an zwölf dieser 231 Mess-Stellen wurden im Grundwasser Ewigkeitschemikalien festgestellt, bestätigte das Landratsamt am Dienstag (28.2.).
Diese zwölf Mess-Stellen tauchten in einer am 23. Februar von der Tagesschau online veröffentlichten interaktiven Karte von bundesweit mehr als 1500 Mess-Stellen (Boden und Grundwasser) mit PFC/PFAS-Nachweisen in Nanogramm (ng) pro Liter Grundwasser auf:
- Beutelsbach: 31 ng im Jahr 2017.
- Geradstetten: 19 ng (2018).
- Grunbach: 17 ng (2018).
- Murrhardt: 12 ng (2017).
- Plüderhausen (zwei Mess-Stellen): 20 ng (2017) und 45 ng (2018).
- Schorndorf (zwei Mess-Stellen): 27 ng und 24 ng (beide 2018).
- Urbach: 15 ng (2018).
- Waiblingen: 12 ng (2017).
- Weissach im Tal-Cottenweiler: 19 ng (2017).
- Welzheim: 22 ng (2017).
Welche PFC/PFAS wurden im Grundwasser im Rems-Murr-Kreis nachgewiesen?
PFC ist ein Überbegriff für Tausende per- und polyfluorierte Chemikalien. PFAS ist ein Unterbegriff von PFC und steht für ebenso Tausende perfluorierte Akylsubstanzen.
Laut Landratsamt wurde im Grundwasser im Rems-Murr-Kreis bislang ausschließlich „der Gehalt folgender Stoffe gemessen“ (Anm. d. Red.: 23 an der Zahl, darunter kurzkettige und langkettige gemäß der Länge ihrer Kohlenstoffketten):
Kurzkettige:
- Amidosulfonat
- Perfluorbutanoat (PFBA)
- Perfluorpentanoat (PFPA)
- Perfluorhexanoat (PFHxA)
- Perfluorheptanoat (PFHpA)
- Perfluorbutansulfonat (PFBS)
- Perfluorpentansulfonat (PFPeS)
Langkettige:
- Perfluoroctanoat/Perfluoroktansäure (PFOA)
- Perfluornonanoat (PFNA)
- Perfluordecanoat (PFDA)
- Perfluorhexansulfonat (PFHxS)
- Perfluorheptansulfonat (PFHpS)
- Perfluoroctansulfonat/Perfluoroktansulfonsäure (PFOS)
- Perfluoroctansulfonsäureamid (PFOSA)
- Perfluorundecanoat (PFUnA)
- Perfluordodecanoat (PFDoA)
- Perfluordecansulfonat (PFDS)
- 7H-Dodecafluorheptanoat (HPFHpA)
- 1H,1H,2H,2H-Perfluoroctansulfonat (H4PFOS)
- 1H,1H,2H,2H-Perfluordecansulfonat (H4PFDS)
- 1H,1H,2H,2H-Perfluorhexansulfonat (H4PFHxS)
- 2H,2H-Perfluordecanoat (H2PFDA)
- 2H,2H,3H,3H-Perfluorundecanoat (H4PFUnA)
Für Amidosulfonat, was vor allem in Reinigungsmitteln verwendet wird, liegt die Nachweisgrenze laut Landratsamt bei 50 µg/Liter (50.000 ng), für alle weiteren genannten Stoffe bei 0,01 µg/Liter (10 ng). Ein Mikrogramm (µg) entspricht 1000 Nanogramm (ng). Zumindest Amidosulfonat wurde demnach wohl nicht nachgewiesen.
Wo kommen die Ewigkeitschemikalien her?
PFC kommen laut Bundes-Umweltministerium „in der Natur nicht vor und können weder durch Wasser noch durch Licht oder Bakterien zeitnah abgebaut werden“. Sie sind „wasser-, fett- und schmutzabweisend und werden fast überall eingesetzt: in Regenjacken und Pfannen, aber auch in Kettenfett, Zahnseide, Burgerpapier, Kosmetik oder Skiwachs.“
PFC finden in der Industrieproduktion vielseitige Anwendungen. PFC-haltig können zum Beispiel auch Einwegverpackungen, Einmalgeschirr und Imprägniersprays sein. PFC-Spuren lassen sich auch in Haushaltsgegenständen, fettbeständigem Papier und Reinigungsprodukten sowie Kosmetik (Shampoos, Cremes, Make-up) finden, teilt das Umweltbundesamt mit.
Gesundheitsgefahren durch Ewigkeitschemikalien
In Baden-Württemberg zuständig für die Aufklärung über PFC-Risiken ist eine beim Regierungspräsidium Karlsruhe angesiedelte Stabsstelle PFC. Diese teilt mit: „Die Aufnahme von PFC-Verbindungen erfolgt überwiegend oral durch PFC-verunreinigtes Trinkwasser oder den Verzehr verunreinigter Lebensmittel.“ Auch könnten PFC-Verbindungen in geringerem Maße über die Haut oder die Atemwege in den Körper gelangen, zum Beispiel durch belastete Innenraumluft oder PFC-haltige Beschichtungen von Textilien.
Nach oraler Aufnahme der PFC-Verbindungen vom Magen-Darm-Trakt ins Blut könnten sie sich von dort in inneren Organen wie Leber, Niere und Lunge sowie in der Muttermilch anlagern. „Auch in Plazentagewebe wurden PFC-Verbindungen nachgewiesen, was auf eine fetale Übertragung hindeutet“ – also auch auf Föten im Mutterleib.
Doch nur für einige der Tausenden von PFC/PFAS sind ausreichend wissenschaftliche Untersuchungen unternommen worden. Zumindest sei aber Folgendes festzuhalten: „Im Unterschied zu den kurzkettigen PFC-Verbindungen (u.a. PFBA, PFPeA und PFHxA) werden die langkettigen Verbindungen PFOS und PFOA nur langsam über die Nieren ausgeschieden und haben somit eine lange Verweildauer im menschlichen Körper“ – und hätten damit potenziell schädigendere Wirkungen.
In Tierversuchen erwiesen sich die bekanntesten langkettigen PFC-Vertreter PFOS und PFOA nach kurzzeitiger Belastung über die Nahrung, die Luft und die Haut zwar als mäßig toxisch. In Langzeitstudien mit Ratten und Mäusen jedoch konnten PFOS und PFOA die Entstehung von Leberkrebs und anderen Tumoren fördern, teilte das Umweltbundesamt schon 2019 und 2020 mit.
Daneben empfiehlt die europäische Lebensmittelbehörde EFSA seit 2020 eine „gruppenbezogene tolerierbare wöchentliche Aufnahme (TWI) von 4,4 Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht", und zwar für die Summe „der vier im menschlichen Blut überwiegenden“ langkettigen Ewigkeitschemikalien PFOA, PFOS, PFNA und PFHxS. Grundlage der Empfehlung seien beobachtete Wirkungen auf das Immunsystem von Säuglingen.
Der Einsatz dieser vier langkettigen PFC in der Produktion ist mittlerweile in der EU weitgehend verboten beziehungsweise stark beschränkt, teilt das Bundesinstitut für Risikobewertung mit. Seit 1. Januar 2023 gelten EU-weit rechtsverbindliche Höchstgehalte für diese vier PFC in Fisch, Fischereierzeugnissen, Krebstieren, Muscheln, Fleisch (inklusive Wild), Eiern und daraus hergestellten Produkten.
Und die Gefahren im Rems-Murr-Kreis?
PFOA, PFOS, PFNA und PFHxS tauchen auch auf der obigen Liste der im Rems-Murr-Kreis 2017 und 2018 an zwölf Stellen gemessenen Ewigkeitschemikalien auf. Die meisten anderen dieser Liste sind auch langkettige Chemikalien-Verbindungen und womöglich genauso potenziell gefährlich. Doch allein für die erste auf der Liste genannte kurzkettige Verbindung ergab schon eine oberflächliche Recherche ein ebenso besorgniserregendes Ergebnis:
Perfluorbutanoat (PFBA): Eine Studie der Harvard T.H. Chan School of Public Health an 323 dänischen Covid-19-Patienten, die Ende 2020 veröffentlicht wurde, ergab, dass eine erhöhte Konzentration von Perfluorbutansäure im Körper das Risiko eines schweren Verlaufs einer Corona-Infektion deutlich erhöhen kann.
Es bleibt der Hinweis der Behörden, dass alle bislang im Rems-Murr-Kreis gemessenen Ewigkeitschemikalien lediglich unter den Geringfügigkeitsschwellenwerten im Grundwasser vorhanden seien.