Rems-Murr-Kreis

Psyche in Gefahr: Kinder im Stress

f68d5a18-314e-4479-a7bc-c41e574ecbc7.jpg_0
Kopfweh, Bauchweh, Müdigkeit, Rückzug: Stress kann sich bei Kindern auf vielerlei Art zeigen. © pixabay.com / CC0 Creative Commo

Waiblingen/Winnenden/Ludwigsburg. Immer mehr junge Patienten sind krank. Dem zugrunde liegt aber nicht ein Virus oder ein körperliches Defizit. Sondern die jungen Menschen leiden unter Stress. Das zeigt sich bei Arztbesuchen, in einer voll belegten Psychosomatik in der Kinderklinik, am Programm des Berliner Kinder- und Jugendärztetags und auch bei der AOK.

Die psychosomatische Station in der Kinderklinik in Winnenden gibt es seit zwei Jahren. Die Station ist ausgelastet. 50 junge Patientinnen und Patienten wurden hier inzwischen und über viele Wochen hin behandelt, 22 davon waren Schulverweigerer.

Die AOK Ludwigsburg-Rems-Murr gibt in einer Pressemitteilung ein großes Interview mit einem Kinder- und Jugendarzt heraus. Das Thema: Stress bei Kindern.

Stress für Kinder ist nichts Neues

Die Waiblinger Kinder- und Jugendärztin Dr. Annette Weimann wird jetzt im Juni wieder zum Deutschen Kinder- und Jugendärztetag nach Berlin fahren. In diesem Jahr dreht sich alles um die Psychosomatik. Im Programm stehen Vorträge zu Ess-Störungen, Schlafstörungen, zu Bauchweh, Kopfweh, Bettnässen, Leistungsversagen und Schulangst und so weiter und so fort. Es dreht sich also um Zeichen von Stress.

Annette Weimann hat jeden Tag mindestens einen Patienten in der Praxis, der unter Stress leidet. Und sie sagt: „Das ist nichts Neues.“ Und es sind tatsächlich nicht nur die Schulkinder, die in Stress geraten. Auch die ganz Kleinen können schon so unter Druck leiden, dass sie krank werden.

Die Psyche leidet, der Körper hat Schmerzen

Stress kann psychosomatische Reaktionen auslösen. Psychosomatisch heißt, dass die Psyche der Auslöser ist, doch die Reaktion eine körperliche ist. Annette Weimann weist auf die vielen Ausdrücke hin, die unsere Sprache für genau dieses Phänomen hat. Und diese Ausdrücke sind für Betroffene nicht nur hohles Geschwätz, sondern tatsächlich spürbare Realität. Wer kennt nicht das Druckgefühl, das im Spruch „Ich hab einen Kloß im Hals“ seinen Niederschlag findet. Wie gern sagt die Jugend lässig „Ich könnt’ kotzen“. Die Kinder, die Bauchweh haben, weil sie aus welchen Gründen auch immer nicht in die Schule wollen, haben, sagt Annette Weimann, wirklich Bauchweh. Die Kinderärztin schätzt, dass bis zu 90 Prozent der Bauchwehfälle zu Schulzeiten psychosomatisch sind.

Doch es gibt noch vielerlei Stressreaktionen, die für Eltern oft kaum zu erkennen sind. Die Kinder werden zornig, lustlos, müde, hängen nur noch rum, sind unaufmerksam und unfolgsam, können nicht mehr schlafen. Sie leiden unter Schwindel, Harndrang, Durchfall oder Verstopfung.

Stress erhöht das Krankheitsrisiko

Stress kann auch dafür sorgen, dass die Kinder gehäuft krank werden. Denn bei Stress schüttet der Körper Cortisol aus. Cortisol unterdrückt Immunreaktionen. Bei kleinen Kitakindern zum Beispiel, sagt Annette Weimann, kommt es immer wieder vor, dass im Blut viel Cortisol und damit ein hoher Stresslevel nachgewiesen wird.

Stress entsteht zum Beispiel, sagt Annette Weimann, wenn Kinder zu viel Programm haben. Wobei hier jedes Kind individuell reagiert und es beim einen längst zu viel sein kann, wenn das andere gerade erst warmläuft. Stress entsteht auch, wenn die Eltern unter Stress stehen. Denn der Druck überträgt sich. Der Tipp der Kinderärztin: Entschleunigen Sie den Alltag, lassen Sie sich Zeit. Und gönnen Sie sich ein Miteinander. Zum Beispiel beim Abendessen. Hier können auch die Leiden und Freuden des Tages besprochen werden. Wobei das Gespräch idealerweise mit einer Freude endet – ein Trick, um die Seele zu streicheln.

Social Media als Stressfaktor

Was nach Erfahrung der Kinderärztin auf jeden Fall das Stresslevel erhöht, ist das Kinderleben mit Smartphone. Etwa alle sieben Minuten, sagt sie, kommt bei den Kindern eine WhatsApp-Nachricht an, die sofort gelesen und beantwortet werden muss. Das führt zu Stress. Doch wer sich dem verweigert, endet zwangsläufig auch im Stress, denn der soziale Druck ist immens. Mit den neuen Medien einher geht Mobbing. Freilich, es gab schon immer Außenseiter in den Klassen. Doch mit E-Mail, WhatsApp, Instagram und Co. werden die Kränkungen noch sehr viel nachhaltiger.

Ob die Leistungsanforderungen in der Schule so viel größer geworden seien, dass sie zu Stress führen? „Das weiß ich nicht“, sagt Annette Weimann. Ist dann das ganze Gerede von Schulstress womöglich bloß Mode? „Garantiert nicht!“ Und, sagt sie, es seien meistens nicht die Eltern – die machten gar nicht so viel falsch. „Es ist die Gesellschaft.“


Freizeitgestaltung

Neben Hort oder Nachmittagschule haben Kinder oft noch Sport, lernen ein Instrument oder gehen in andere Vereine. Das ist gut und wichtig.

Doch, sagt Annette Weimann, „weniger ist mehr“. Kinder müssen Zeit haben, ihre Freizeit auch selbst und ganz unverplant gestalten zu können.

Kinder dürfen sich ruhig auch mal langweilen.

Was aber nicht heißt, dass ein Hobby – etwa Klavierspielen – sofort wieder eingestellt werden muss, wenn das Kind feststellt, dass auch hier Engagement vonnöten ist. Bei dieser „Gratwanderung“ sollten, sagt Annette Weimann, die Eltern nach ihrem Gefühl gehen.