Querdenker-Demos: "Montagsspaziergänge" im Rems-Murr-Kreis – was dahinter steckt

Montag (13.12.) gegen 18 Uhr in Winnenden: Etwa 50 Menschen haben sich vor dem Rathaus versammelt. Manche von ihnen tragen Kerzen bei sich. "Bekannte Gesichter" sind darunter, sagt Martin Schmitzer, Redaktionsleiter der Winnender Zeitung. Bekannt von Demonstrationen der Querdenker-Szene.
Doch an diesem Abend ist alles anders: Keine Parolen sind zu sehen, keine Spruchbänder, keine Plakate. Stattdessen setzt sich der Pulk in Bewegung, läuft eine Runde durch die Innenstadt. Auch Kinder sind dabei. Die Glühweintrinker vor dem Alten Rathaus blicken der Gruppe etwas irritiert hinterher.
"Spaziergänge" überall: Querdenker ändern ihre Taktik
"Niemand trug Maske, und die meisten standen sehr dicht beieinander", sagt Martin Schmitzer am späteren Abend. "Wenn Passanten sich ansprechen ließen, erfuhren sie, dass die Beteiligten gegen den 'Corona-Wahnsinn' seien. Im Prinzip fiel die große Gruppe nicht auf."
Nicht nur in Winnenden fand am Montag ein solcher "Spaziergang" statt. Auch in etlichen anderen Orten im Rems-Murr-Kreis war zu beobachten, was sich seit längerem angekündigt hatte: Die Querdenker-Szene in Baden-Württemberg ändert ihre Taktik. Nach sächsischem Vorbild.
Mobilisierung auf Telegram: Wo überall Demos stattfanden
Für den Montagabend hatten Querdenker im Rems-Murr-Kreis zu "Spaziergängen" vor Rathäusern und anderen zentralen Orten aufgerufen. Ein entsprechender Beitrag macht in regionalen Telegram-Kanälen am Vormittag die Runde – unter anderem bei "Querdenken 718 Schorndorf".
Mobilisiert wurde für die folgenden Orte: Backnang, Fellbach, Kernen-Rommelshausen, Murrhardt, Remshalden-Geradstetten, Rudersberg, Schorndorf, Waiblingen, Weinstadt-Beutelsbach, Welzheim, Winnenden und Winterbach. Wie ein Sprecher des Polizeipräsidiums Aalen auf Nachfrage mitteilt, sollen dort auch tatsächlich "Spaziergänge" stattgefunden haben – Remshalden ausgenommen.
Die Polizei sei bei all diesen "Spaziergängen" vor Ort gewesen. Teilgenommen hätten laut Sprecher meist "50 oder weniger Personen". Mit etwa 200 Teilnehmenden habe die größte Demo in Backnang stattgefunden. Besondere Vorkommnisse habe es nicht gegeben.
Vorbild Sachsen: Telegram-Kanal will Schwaben-Demos koordinieren
Inspiriert sind die sogenannten "Spaziergänge" von Querdenker-Demos in Sachsen. Die sogenannten "Freien Sachsen", geben dort den Ton an. Eine Gruppierung, die vom sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuft wird. Die Köpfe: ein NPD-Mann und ein Anwalt, der schon Rechtsterroristen vor Gericht verteidigte.
Auf Telegram sammeln die "Freien Sachsen" Termine für Demos, veröffentlichen Bild- und Videomaterial, interpretieren das Geschehen in ihrem Sinne – online und vor Ort. Die Demonstrierenden sind "das Volk", das sich gegen "den Staat" auflehnt. Es werden querdenkertypische "Diktatur"-Narrative und Verschwörungserzählungen bedient.
Nun gibt es ein baden-württembergisches Pendant: Der wenige Tage alte Telegram-Kanal, von dem der Demo-Aufruf für Montag (13.12.) ausging, nennt sich "Freie Schwaben". Dort fanden sich auch Termine für andere Regionen in Baden-Württemberg. Und später wurden Bilder geteilt.
Richtungswechsel: Was sich bei den Demos jetzt ändert
Aber nicht nur die Telegram-Kommunikation der Rechtsextremisten wird kopiert. Auch der damit verbundene Richtungswechsel.
In Baden-Württemberg war das Demonstrationsgeschehen lange durch die Initiative "Querdenken 711" und ihre Ableger geprägt. Die Gruppierung um Michael Ballweg setzte auf größere, stationäre, angemeldete Demos, die mit viel Vorlauf beworben werden konnten. Es gab Programm.
In Sachsen erleben wir aktuell etwas anderes: Unzählige, in der Regel unangemeldete Demos finden gleichzeitig an vielen Orten statt. Auch in den kleinsten Gemeinden. Die Protestierenden sind dabei in Bewegung, statt sich an einem Ort zu versammeln und dort zu bleiben.
Warum "Spaziergänge?": Wie Querdenker der Polizei die Arbeit erschweren wollen
Mit dem Strategiewechsel ergeben sich für die Querdenker-Szene mehrere Vorteile.
- Eine Demonstration, die nicht angemeldet ist, kann auch nicht im Vorfeld mit Auflagen bedacht werden.
- Eine Demonstration, die ohne Plakate auskommt und sich als "Spaziergang" tarnt, ist schwerer als solche zu erkennen.
- Mehrere Demonstrationen zur gleichen Zeit machen es den Ordnungskräften schwerer, mit ausreichend Personal vor Ort zu sein.
"Die rechtliche Bewertung obliegt grundsätzlich der originär zuständigen Versammlungsbehörde", sagt der Sprecher der Polizei Aalen dazu. Sprich: dem lokalen Ordnungsamt. Dennoch lässt sich die Polizei offenbar über den Charakter dieser "Spaziergänge" nicht täuschen: "In Zweifelsfällen gehen wir eher vom Vorliegen einer Versammlung aus und wenden das Versammlungsgesetz an."
Die Macht der Bilder: Win-win-Situation für Querdenker
Es gibt aber noch einen anderen Zweck, dem diese "Spaziergänge" dienen: Sie produzieren wirkmächtige Bilder. Auch hier lässt sich am Beispiel der "Freien Sachsen" bereits beobachten, wie damit umgegangen wird.
Zum einen sollen in kurzen Abständen veröffentlichte Bilder von zig Orten die Botschaft vermitteln: Wir sind viele. Wir sind überall. Zum anderen wird jeder Zwischenfall – von der Auflösung der Versammlung bis zum gewalttätigen Zwischenfall – rigoros augeschlachtet und passend zusammengeschnitten. Das Narrativ: Die brutale "Diktatur" geht gegen "friedliche Spaziergänger" vor.
Friedliche Querdenker? Experten widersprechen
Und so fluteten am Montagabend (13.12.) Bilder und Videos von Demos im Rems-Murr-Kreis und in anderen Regionen die Telegram-Kanäle. Doch mit der Friedlichkeit der Querdenker ist es nach Meinung von Experten nicht weit her. Journalisten, Politiker, Verfassungsschützer und Wissenschaftler warnen teils seit längerem vor der fortschreitenden Radikalisierung und dem Gewaltpotenzial der Szene.
Immer wieder kommt es bei Demonstrationen zu Angriffen auf Journalisten und Polizeibeamte. Es gibt Proteste vor den Privatwohnungen und -häusern in der Szene verhasster Politiker. Auf Telegram werden Feindeslisten angelegt, sich über Waffen ausgetauscht und Tötungsfantasien geäußert.
Nichtsdestotrotz sollte man eines nicht aus den Augen verlieren: Der renommierte Rechtsextremismus-Experte Miro Dittrich (CeMAS) sagte kürzlich im Interview mit der "Zeit", es gebe eine große Mehrheit, die sich wegen ihrer Position zur Pandemie an die Regeln halte. Dass in Rems-Murr-Gemeinden ein Bruchteil der Bevölkerung am Montagabend durch die Straßen zog, scheint seine These zu bestätigen: "Es ist nicht 'das Volk', das auf der Straße steht."