Rems-Murr-Kreis

Sie quälen Kinder, treiben sie in den Tod: Das sadistische Online-Netzwerk 764

764 netzwerk
In Videos, die Selbstverletzung oder blutige Schriftzüge zeigen, wirbt die Gruppe um neue Mitglieder. Diese Bilder zeigen wir nicht. © Alexander Roth (Screenshot)

Stuttgart/Waiblingen. Ein internationales Online-Netzwerk namens 764 soll Kinder und Jugendliche zur Selbstverletzung und Selbsttötung anstiften und sie sexuell missbrauchen. Auch in Baden-Württemberg laufen deswegen Ermittlungen. Was über die sadistischen Täter und ihr Umfeld bekannt ist – und über ihre grausamen Taten.

Warnung: Der folgende Beitrag enthält Beschreibungen schwerster Gewalt, thematisiert Kindesmissbrauch und Suizid. Wir haben uns dazu entschieden, diese Fälle zu thematisieren, damit mögliche Gefahren schneller erkannt und richtig eingeordnet werden können. Das Hilfe-Telefon bei sexueller Gewalt erreichen Sie unter der Nummer 0800 2255 530. Hilfe bei Suizidgedanken erhalten Sie unter 0800 111 0 111 oder auf https://www.telefonseelsorge.de/

Was ist das 764-Netzwerk?

Das 764-Netzwerk ist eine internationale kriminelle Gruppe, die in den USA als Terror-Organisation eingestuft wird. Der Name leitet sich aus der Postleitzahl von Stephenville (Texas) ab, wo es 2021 von einem 15-jährigen Schulabbrecher gegründet wurde. Im Kern geht es den Mitgliedern von 764 darum, über Online-Dienste wie Discord, Roblox oder Telegram vulnerable Kinder und Jugendliche zu sexuellen, selbstverletzenden Handlungen zu bringen und sich vor anderen damit zu brüsten – bis hin zu Suiziden vor laufender Kamera.

Im Fall von 764 sprechen Experten häufig von einem „Sextortion“-Netzwerk. Das bezieht sich auf Vorgehensweise und mögliche Motivation der Gruppe: Unter dem Begriff „Extortion“ fasst Terrorismusforscher Marc-André Argentino Gruppen zusammen, die zu ihren Opfern ein Vertrauensverhältnis aufbauen, um dieses Vertrauen später für Manipulation und Erpressung zu missbrauchen. Den Tätern gehe es dabei darum, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sind diese Bedürfnisse sexueller Natur, spricht man von „Sextortion“. Auch das Gefühl von Macht und eine nihilistische Weltsicht spielen laut den Extremismus-Experten von „CeMAS“ eine Rolle.

Der Fall „White Tiger“: Toter Junge als Trophäe

Der bekannteste Fall: „White Tiger“. Im Sommer 2022 fanden zwei FBI-Agenten laut „Spiegel“ heraus, dass ein damaliger Oberstufenschüler aus Hamburg im Internet gezielt nach labilen Kindern Ausschau gehalten hatte, um diese zu manipulieren. „Die Opfer mussten sich nach Erkenntnissen der Ermittler seinen Namen in die Haut ritzen, ätzende Flüssigkeit in die Wunden gießen und sich an den Genitalien verletzen.“ Einen 13-Jährigen aus den USA soll er vor laufender Kamera in den Suizid getrieben haben. Unter 764-Mitgliedern wird das laut „Washington Post“ als „ultimative Trophäe“ gesehen.

Erste Hinweise auf den heute 21-Jährigen, der online unter dem Pseudonym „White Tiger“ auftrat, habe es laut „Zeit“ bereits 2021 gegeben. Zwischenzeitlich war er sogar von der Polizei vernommen und bei ihm durchsucht worden. Bis zur Festnahme im Juni 2025 vergingen dennoch fast vier Jahre – weil die Tragweite des Falls den Ermittlern offenbar erst langsam klar wurde und die Auswertung der Beweise sich hinzog. Der „Spiegel“ schreibt: „Neben Belegen für die Gewalttaten förderte die Datenauswertung Anleitungen zum Bombenbau und für Terroranschläge zutage.“

Anklage Mord: Mehr als 30 potenzielle Opfer

Mittlerweile wurden mehr als 30 mutmaßliche Opfer des Deutsch-Iraners identifiziert und Anklage gegen ihn erhoben. Ihm werden mehr als 200 Straftaten zur Last gelegt, darunter der Mord an dem 13-Jährigen aus den USA und versuchter Mord in fünf weiteren Fällen. Alle mutmaßlichen Opfer waren minderjährig. Der 21-Jährige streitet die Vorwürfe ab.

„Terror-Woche“: Selbstverletzungen und blutige Schriftzüge

„White Tiger“ gilt als einer der Köpfe von 764. Aber er ist nach allem, was über das Netzwerk bekannt ist, bei Weitem kein Einzeltäter. Das Netzwerk scheint auch nach seiner Festnahme weiter aktiv zu sein. Das zeigen nicht zuletzt Recherchen unserer Redaktion.

In einem mittlerweile nicht mehr öffentlich zugänglichen Telegram-Kanal hatten mutmaßliche Mitglieder Anfang September eine „Terror-Week“ („Terror-Woche“) ausgerufen. In Bildern und Videos, die uns vorliegen, sind Selbstverletzungen zu sehen – und Schriftzüge, die mit Blut an Wände und auf Papier gemalt zu sein scheinen. Neben der Zahlenfolge „764“ finden sich Online-Nutzernamen, teilweise mit dem Zusatz „I belong“ - „ich gehöre“. Es sind die Nutzernamen mutmaßlicher Täter. Die Aufnahmen sind nur schwer zu ertragen. Wir zeigen sie nicht.

Vorbilde, Nachahmer, Verbündete: 764 im „Com“-Netzwerk

„764“ steht nach der Überzeugung von Ermittlern in einer Tradition ähnlicher Gruppierungen und hat diverse neue Gruppen „inspiriert“. Als direktes Vorbild gilt das „CVLT“-Netzwerk, das ebenfalls Kinder zu erniedrigenden Handlungen und Selbstverletzung zwang. Es gibt Verbindungen zu Gruppen wie „No Lives Matter“, die zu schwersten Gewalttaten gegen das Leben aufrufen, zu satanistisch-rechtsterroristischen Gruppen wie dem „Order of Nine Angels“ oder dem „Maniac Murder Cult“ – und ständig kommen neue hinzu. Die ideologischen Grenzen sind dabei fließend, die Übergänge verschwimmen.

Diese Gruppen, die teilweise ihre Motivation, teilweise ihr Vorgehen oder ihre Ziele verbinden, verstehen sich als „Community“ („Gemeinschaft“), kurz „Com“. Ermittler sprechen deshalb auch vom „Com“-Netzwerk. Innerhalb des Netzwerks gebe es Anleitungen, wie man potenzielle Opfer richtig anspricht und was bei der Durchführung der Gewalttaten zu beachten ist, heißt es in einem Report von CeMas.

Täter und Opfer in Baden-Württemberg? Das wissen wir

Die Täter feiern sich wie Helden. Ihre Opfer picken sie sich auf Discord, Roblox oder Telegram heraus, teilweise Berichten zufolge im Umfeld beliebter Spiele wie „Minecraft“. Wichtig ist ihnen, dass die Jugendlichen verletzlich sind, anfällig für das grausame Vorhaben. Woher sie kommen, spielt nach allem, was bekannt ist, eher eine untergeordnete Rolle. Sprich: Es kann Minderjährige überall treffen. Auch bei uns.

Wir wollten daher vom Landeskriminalamt wissen, wie viele Ermittlungen gegen mutmaßliche Mitglieder dieses „Com“-Netzwerks in Baden-Württemberg laufen – und wie viele mutmaßliche Opfer des Netzwerks im Land bekannt sind. Wir baten um eine Aufschlüsselung nach Landkreisen. Die Antwort fiel knapp aus: In Baden-Württemberg laufen Ermittlungsverfahren „im unteren einstelligen Bereich“ im Zusammenhang mit dem COM-Netzwerk. Da die Ermittlungen noch laufen, könne man zurzeit keine weiteren Auskünfte erteilen, so eine Sprecherin. Man will sich vorerst nicht in die Karten schauen lassen.

Worauf müssen Eltern achten?

Die Polizei Hamburg hat unter https://www.polizei.hamburg/toxic-influence-1068942 einen Leitfaden für Eltern zur Verfügung gestellt. Es werden Warnzeichen aufgelistet und Hinweise gegeben, wie man Kinder schützen kann.

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