Unterwegs mit dem Nachtzug: Von Stuttgart nach Venedig in zwölf Stunden

Für 110 Euro von Stuttgart nach Venedig und wieder zurück: Das ist dank des erweiterten Fahrplans der österreichischen Bundesbahn kein Traum mehr, sondern Realität. Aber wie reist es sich überhaupt im Nachtzug? Kann man tatsächlich schlafen? Und wer ist mit dem „Nightjet“ unterwegs?
Los geht’s: Zwölf Stunden Fahrt ab Hauptbahnhof Stuttgart
Die Reise beginnt am oberen Gleis des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Der Nachtzug wartet schon auf die Reisenden. Davor versammeln sich bereits Schaffner und Lokführer, um sich noch einmal die Beine zu vertreten – die Fahrt dauert zwölf Stunden.
Auch die ersten Reisenden sind schon auf der Suche nach dem richtigen Waggon mit dem reservierten Platz. Für jedes gebuchte Ticket erfolgt eine automatische Platzreservierung, wobei die Buchenden eine Präferenz angeben können: Lieber ein Platz am Fenster? Oder am Gang? Entlang des Bahnsteigs verabschieden sich Reisegäste von Bekannten, Freunden oder Familienangehörigen – die einen auf Deutsch, die anderen auf Italienisch und Englisch. Dem ersten Eindruck nach ist der Nachtzug bunt besetzt: Gruppen von jungen Erwachsenen, ältere Pärchen und Familien, aber vor allem Alleinreisende sind anzutreffen.
Juliane Busch, 25 Jahre alt, ist schon mal mit einem Nachtzug von Berlin nach Prag gefahren. Nun geht es von Stuttgart nach Venedig Mestre. „Es ist noch ziemlich leer hier“, sagt sie etwas überrascht und schaut auf die fünf freien Sitzplätze ihres Sechserabteils. Sie ist Studentin und hat in Schweden ihren Bachelor in „Industriemanagement und Innovation“ absolviert. Da ist sie öfter zwischen ihrem Zuhause in Plochingen und ihrem Studienort geflogen. Nun, erzählt sie, ist sie auf dem Weg nach Italien, um dort ihren Master zu machen. Und hat sich für den Nachtzug entschieden. Sie will nicht mehr fliegen.
Auf die Idee, mit dem Nachtzug zu fahren, seien ihre Eltern gekommen, sagt sie. Die hatten davon in der Zeitung gelesen. Sie denkt, es sei praktisch, nachts zu reisen, da man in der Zeit auch „gemütlich schlafen kann“. Juliane Busch findet die Fahrt mit dem Nachtzug „voll gut“ und ist zufrieden mit dem Service. Es sei stets ein Mitarbeiter in den Küchen des Liege- und Schlafwagens anzutreffen, bei dem sich auch die Reisenden des Sitzwaggons etwas zu essen und zu trinken kaufen könnten. „Ich mag Zug fahren, da hat man eine Reise vor sich und Zeit, neue Leute kennenzulernen.“
Eine gute Sache: So fährt der Zug, so wird gearbeitet
Seit dem 11. Dezember 2022 verbinden die Nachtzüge wieder den Stuttgarter Hauptbahnhof mit Metropolen in Europa. Zunächst wurden die Ziele Venedig, Wien, Budapest, Zagreb und saisonal Rijeka festgelegt. Im Laufe der nächsten Jahre sollen nicht nur die alten Waggons durch moderne Modelle ersetzt werden, sondern auch der Fahrplan mit weiteren Strecken ab Stuttgart ergänzt werden.
Pünktlich um 20.29 Uhr startet dieser Nachtzug in Stuttgart mit insgesamt neun Waggons. Die ersten drei werden am Ende der Fahrt in Budapest landen, die nächsten drei in Zagreb und die letzten drei in Venedig. Für jedes Reiseziel gibt es je einen Sitzwagen, einen Liegewagen und einen Schlafwagen. Die Waggons sind an den Türen mit Start- und Endstation gekennzeichnet: Reisende können sich so gut zurechtfinden. Zudem unterscheiden sich die Waggons in ihrem Design. Sie werden nämlich von dem Bahnunternehmen des jeweiligen Reiseziels gestellt. Der Nightjet-Teil in Richtung Venedig hält bis zur letzten Station in Venedig Santa Lucia insgesamt 14-mal.
Lokführer: Es ist wichtig, erholt und konzentriert zu fahren
Während des Halts in München hat Lokführer David Eichholz ein bisschen Zeit, um von seiner Arbeit zu erzählen: Der erste Lokführer, sagt er, sei von Stuttgart nach München gefahren. Er selbst sei gerade dazugestiegen, um nun die Führung der Waggons bis zum Bahnhof in Salzburg zu übernehmen. Innerhalb der zwölfstündigen Fahrt gebe es meistens vier Lokführerwechsel: „Man muss die Strecke ja kennen, die man fährt“, erklärt der 51-Jährige. Er selbst komme aus Freilassing und fahre die Strecke regelmäßig.
Neben der Streckenkenntnis ist es, sagt Eichholz, wichtig, erholt und konzentriert zu fahren. Denn der Zug legt bis zu 180 Kilometer pro Stunde zurück. Der nächste Lokführerwechsel sei in Salzburg und danach an der Grenze zu Italien.
Am Salzburger Bahnhof erwartet die Reisenden der längste Halt. Dort werden die Nachtzüge neu zusammengesetzt: Die Waggons, die nach Zagreb und Budapest sollen, werden mit anderen Reiseabteilen und Lokomotiven, die dasselbe Ziel haben, verbunden. Dafür kommen vier neue Waggons aus Wien an den Zug aus Stuttgart dran. Fahrtziel: Venedig. Ab Salzburg fahren also die Waggons aus Stuttgart in verschiedene Richtungen weiter. Wer einen leichten Schlaf hat, sollte die Ohrstöpsel nicht vergessen, denn das Koppeln der Waggons um 2 Uhr in der Nacht ist gut zu hören.
Nette Leute: Es reisen Studenten, Ärzte, Handwerker
In einem der Sechserabteile des Sitzwaggons Richtung Venedig scheint auch um 23.30 Uhr noch Licht durch die Vorhänge. Dahinter sitzen die drei Stuttgarter Carl Schirmer, Annika Michaelis und Lea Wacker. „Wir wollen ein entspanntes Wochenende in Venedig verbringen“, sagt Carl, 21 Jahre alt und Schreiner von Beruf. Sie wollten eine „Auszeit vom Alltag“ und entschlossen sich kurzerhand, dem Nachtzug eine Chance zu geben. Der Grund: „Es ist nicht nur preiswert, sondern man kann auch während der Fahrt schlafen.“ Jawohl: Auch im Sitzwaggon sei es möglich sich hinzulegen und zu schlafen. Alle sechs Sitze könne man ausziehen und somit das Abteil in eine einzige Liegefläche verwandeln. Das, sagt Carl, habe die Gruppe gleich zu Beginn der Fahrt ausprobiert. Das Fazit: „Man kann auf jeden Fall dösen. Und wenn man einen tiefen Schlaf hat, kann man bestimmt auch richtig schlafen.“ Reisende, die einen Termin vor sich haben, bei dem sie gerne ausgeruht ankommen möchten, sollten aber lieber in einem Schlafwagen reisen, vermutet Carl.
Service: Auswahl an Snacks und Getränken
Auch mit dem Serviceangebot innerhalb der Waggons sei er „sehr zufrieden“: Es gebe genug Auswahl an Snacks und Getränken. Und die Möglichkeit, sich bei den längeren Aufenthalten an Bahnhöfen etwas beim Bäcker zu holen.
Annika Michaelis findet: „Das Personal ist hilfsbereit, und es ist immer jemand anzutreffen, der einem Fragen beantwortet.“ Die 20-jährige Studentin ist bereits viermal in Venedig gewesen, jedoch stets mit der Familie: „Wenn man mit dem Auto fährt, muss man immer mit Stau rechnen, und teuer ist es auch.“ Daher findet sie die Alternative mit dem Nachtzug „echt gut“. Sie sagt, sie könne das jungen Gruppen nur empfehlen. Was ihr allerdings im Nachtzug fehlt, ist eine Art Badezimmer. Es gibt zwar pro Waggon zwei Toiletten mit Waschbecken, aber es sei doch ein wenig unhygienisch, sich dort die Zähne zu putzen. Wer sich also im Zug frischmachen möchte, sollte in einem Schlafwaggon reisen. Dort ist in jedem Abteil eine eigene Waschmöglichkeit integriert. Ein Tipp der Gruppe: Ab einer Anzahl von drei Personen kann man ein Sechserabteil für sich reservieren.
Mehr Privatsphäre durch kleine Zug-Abteile
Auch Hausärztin Erica Wagner reist mit dem Nachtzug. Die 62-Jährige ist in Augsburg zugestiegen und auf dem Weg nach Venedig, um dort einen langjährigen Freund zu besuchen. „Er hat morgen Geburtstag und da habe ich spontan ein Ticket gebucht, um mit ihm zu feiern“, erzählt sie glücklich. Erica Wagner ist begeistert davon, wie „spontan“ die Reise mit dem Nachtzug möglich ist. Plötzlich wühlt sie in ihrem Reiserucksack, holt das Reiseticket hervor und zeigt auf einen Schriftzug: „Schau mal da, wir tun auch was für die Umwelt.“ In grüner Farbe steht dort: „Ihre CO2-Erspanis: 171,5 Kilogramm für ihre Bahnfahrt pro Person, im Vergleich zum Pkw.“
Der Augsburgerin ist es wichtig, „auch etwas für das Klima zu tun, wenn man schon die Wahl hat“. Darum fährt sie lieber mit der Bahn, als zu fliegen. Bei der Frage, was sie vom Nachtzug halte, muss sie nicht lange nachdenken: „Super! Wir haben die ICEs stehenlassen.“ Sie finde das Reisen mit dem Nachtzug „eindeutig angenehmer“ als mit dem ICE und das aus mehreren Gründen: Es gebe mehr Privatsphäre durch die kleinen Abteile; die Waggons und Toiletten seien sauberer; die Heizung sei regulierbar und würde „tatsächlich funktionieren“. Außerdem gebe es keine störenden Durchsagen des Personals, da von 21 Uhr bis 8 Uhr Nachtruhe herrsche. Man müsse sich eben einen Wecker stellen, um sein Reiseziel nicht zu verpassen.
In Venedig: Verspätet – aber mit Kaffee
Mit einer Stunde Verspätung kommt der Nachtzug mit drei Sitzwaggons und jeweils zwei Liege- und Schlafwaggons um 9.30 Uhr in Venedig Santa Lucia an. Als kleine Entschädigung bekommen alle Reisenden einen Kaffee sowie eine Flasche Wasser geschenkt. „Da könnte sich die Deutsche Bahn ein Beispiel dran nehmen“, scherzt Carl Schirmer beim Verlassen des Zuges.
Es dauert nicht lange, schon ist man im Zentrum Venedigs. Die Wege sind frei und man trifft erst bei ungefähr jeder fünften Kreuzung auf eine kleine Gruppe Touristen. Zwischen Silvester und Karneval heißt es für die Stadt und deren Bewohner tief durchatmen und anpacken: Denn in dieser Zeit werden viele der Häuser, Geschäfte, und Sehenswürdigkeiten renoviert und die verwinkelten Gassen aufgeräumt, berichtet Daniel Brenner, der selbst im Stadtzentrum wohnt. Er beobachtet „Jahr für Jahr“, wie die Touristen über die Rialtobrücke bis zum Markusplatz strömen und dabei vergessen würden, dass es sich nicht um einen „Freizeitpark“ handle. Er freue sich stets, sagt er, wenn die Touristensaison vorbei sei und wieder ein wenig Normalität in der Stadt einkehre.
Deshalb: Warum nicht im Januar den Nachtzug nach Venedig nehmen? Das ist vielleicht der falsche Zeitpunkt, um von einem Restaurant ins nächste zu ziehen und einen Halt in jeder Kirche zu machen. Aber im Winter sieht man das echte Venedig. Venedig im Alltag.