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Digitale Sozialarbeit: Wie Anna & Hannah über Gewalt an Frauen aufklärt

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Anna-Lena Reiferscheid (links) und Hanna Kopahnke klären auf Social Media über Mädchenrechte auf. © David B. Erhardt

Junge Frauen und Mädchen digital, schnell und barrierefrei zu ihren Rechten beraten: Das ist der Ansatz von Anna-Lena Reiferscheid und Hanna Kopahnke, die mit ihrem Account Anna & Hannah auf Instagram und Tiktok über Mädchenrechte aufklären und Betroffenen helfen, diese einzufordern. Beide setzen sich nicht nur für den Schutz von jungen Frauen ein, sondern wollen zeigen, dass Gewalt gegen Frauen kein Einzelschicksal ist.

Anna & Hannah will barrierearm viele Mädchen erreichen

"Wir haben den Eindruck, dass Mädchen in ihren speziellen Bedürfnissen irgendwie übersehen werden," sagt Anna-Lena Reiferscheid. Anna-Lena Reiferscheid und Hanna Kopahnke sind beide Sozialarbeiterinnen und Erziehungswissenschaftlerinnen. Gemeinsam haben sie jahrelang zusammen in der stationären Jugendhilfe gearbeitet und bereits hier fehlende Hilfsangebote für weibliche Jugendliche gefunden. Anna & Hannah soll diese Lücke schließen und richtet sich dabei vor allem an Mädchen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrung sowie an Mädchen, die im Bildungssystem oder wirtschaftlich benachteiligt sind. "Junge Menschen halten sich nun mal auf Social Media auf. Warum sollte man diese Plattformen nicht nutzen und auf junge Mädchen und Frauen zugehen, ohne dass sie sich zu uns bewegen müssen?", sagt Anna-Lena Reiferscheid. 

"So erreichen wir auch Mädchen, die zum Beispiel von ihrer Familie oder ihrem Freund sehr stark kontrolliert werden, oder auf dem Land leben, wo es wenig Angebote in der Schulsozialarbeit gibt. Über Social Media haben wir auch Kontakt zu jungen Frauen, die noch nicht lange in Deutschland sind und deshalb gar nicht wissen, welche Rechte sie hier haben und welche Angebote es gibt," sagt Hanna Kopahnke. Anna & Hannah soll möglichst barrierearm sein und mit leichter Sprache und Mehrsprachigkeit möglichst inklusiv sein.

Anna & Hannah: So geht soziale Arbeit auf Social Media

In ihren Info-Posts und kurzen Videos soll anhand von Beispielen deutlich gemacht werden, wie Rechtsverletzungen aussehen und wie Mädchen für ihre Rechte einstehen können. Ihre erste Kampagne "#MädchenrechteKurzErklärt" klärt unter anderem über die Themen Zwangsverheiratung, Gewalt und weibliche Genitalverstümmelung auf. "Es kostet viel Arbeit und Zeit, zu überlegen, wie man Inhalte runterbrechen kann und sie so praxisnah wie möglich zu gestalten," sagt Anna-Lena Reiferscheid. Wichtig ist den beiden vor allem, dass verständlich wird, wann Rechte missachtet werden. Betroffene können direkt per Nachricht auf Instagram oder TikTok mit den beiden Sozialarbeiterinnen in Kontakt treten – auch hier soll die Hürde möglichst gering gehalten werden. "Wir versuchen dann erstmal das Problem zu verstehen, der Person über den Chatkontakt eine erste emotionale Unterstützung zu bieten und sie dann je nach Situation über Hilfsangebote zu informieren," sagt Anna-Lena Reiferscheid. Anna & Hannah will auch über digitale Gewalt aufklären – ein Punkt, der die beiden Gründerinnen dabei besonders beschäftigt, ist Cybergrooming. Dabei schreiben Erwachsene im Internet Minderjährige an und stiften diese dazu an, ihnen Bilder zu schicken oder sich mit ihnen zu treffen.

Auch über Gewalt in den sozialen Medien, wie Beschimpfungen, Beleidigungen oder Bedrohungen wollen beide aufklären. "Stalking, das Teilen von Videomaterial oder Bildern, aber auch Kontrolle über gestohlene Passwörter spielen bei der Gewaltbetroffenheit von jungen Frauen eine Rolle. Auch hier wollen wir zeigen: Digitale Gewalt hat die gleichen Folgen wie physische Gewalt. Sie kann psychische Folgen haben wie Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit oder Depressionen," sagt Hanna Kopahnke. Es brauche eine größere Sensibilisierung in der Gesellschaft und härtere Richtlinien der Sozialen Medien. Die Beschwerdemechanismen reichen oft nicht aus: "Wir haben schon versucht, mit jungen Frauen Videos oder Bilder löschen zu lassen – Material, mit denen Täter junge Frauen unter Druck setzen können. Bis die Beiträge gelöscht sind, könnten das schon viele Menschen gesehen haben," sagt Anna-Lena Reiferscheid.

Anzeigen von Betroffenen haben selten polizeilich Konsequenzen

Auch die Mithilfe der Polizei frustriert beide. In der Jugendhilfe haben sie die Erfahrung gemacht, dass Anzeigen wegen digitaler Gewalt selten eine strafrechtliche Verfolgung zur Folge haben. "Es gibt in den meisten Fällen, die uns bekannt sind, noch nicht mal eine Gefährderansprache, weil bisher ja noch nichts passiert sei. Wenn zum Beispiel Fotos verbreitet werden, einer jungen Frau gedroht wird – auch so, dass ihr Leib und Leben bei der nächsten Begegnung mit ihrem Ex-Partner bedroht ist, hat das selten polizeilich Konsequenzen. Von einer Anzeige sind die Täter in den wenigsten Fällen eingeschüchtert," sagt Anna-Lena Reiferscheid.

Instagram-Algorithmus vs. Aufklärungsarbeit

Nicht nur die Beschwerdemechanismen kritisieren beide, sondern auch den Algorithmus von Instagram und Tiktok. Seit Februar 2024 müssen Instagram-Nutzer einstellen, wenn sie politische Inhalte von Accounts, denen sie nicht folgen, vorgeschlagen bekommen wollen. Das beeinflusst auch die Arbeit von Anna-Lena Reiferscheid und Hanna Kopahnke. "Jeder einzelne Beitrag, den wir bewerben wollten, zum Beispiel 'Du hast ein Recht auf ein Leben ohne Gewalt' oder der Post über die Forderung nach einem gleichberechtigten Leben für Mädchen und junge Frauen wurde von Instagram abgelehnt und wir konnten sie so nicht bewerben, weil die Beiträge nicht den Richtlinien der Plattform entsprechen," sagt Hanna Kopahnke. Grund- und Menschenrechte sehen beide als einen Konsens an, der in einer Demokratie vorherrschen sollte. "Es gibt eine Disbalance zwischen dem Einschränken von beispielsweisen unseren Inhalten und dem Pushen von Videos mit politischen Inhalten, die die Demokratie und Menschenrechte aber nicht bestärken," sagt Hanna Kopahnke. 

Digitale Sozialarbeit: Aufklären "dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen kein Einzelschicksal ist"

Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist ein strukturelles Problem – das machen beide mehrmals deutlich. Laut Anna-Lena Reiferscheid wird sich das erst ändern, wenn es flächendeckend Angebote zur Gewaltprävention für mögliche Betroffene gibt. "Solange immer nur Geld investiert wird, wenn die Gewalt schon passiert ist, werden wir nie wirklich weiterkommen. Wenn nicht in Prävention investiert wird, wird gesellschaftlich nicht anerkannt, dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen kein Einzelschicksal ist," sagt Anna-Lena Reiferscheid. Sie wünscht sich mehr Aufklärung über Rechte und rechtliche Möglichkeiten sowie über diskriminierende Strukturen, die junge Frauen belasten und einschränken. Aber vor allem mehr Geld – für Präventionsarbeit, Personal in der sozialen Arbeit, für Direktintervention, passende Materialien und Projekte sowie soziale Medienangebote. 

Denn mit ihrer digitalen Sozialarbeit erreiche Anna & Hannah einen großen Identifikationsmoment unter Betroffenen. "Bei all der Warnung vor Social Media ist es auch ein wahnsinnig empowerndes Instrument. Die Betroffenen sehen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind, weil viele Leute den Beitrag liken und kommentieren. Das können wir in der sozialen Arbeit nutzen," sagt Hanna Kopahnke. "Der Aspekt der Community-Bildung ist einzigartig. Ich glaube es gibt keinen anderen Raum, in dem man das so schaffen kann," sagt Anna-Lena Reiferscheid. 

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