Juden in Baden-Württemberg: Hamas-Terror hat das Sicherheitsgefühl erschüttert
Der Terror-Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, antisemitische Demonstrationen in europäischen Städten und die Hetzjagd auf Juden in der russischen Republik Dagestan haben Spuren hinterlassen. Auch in Baden-Württemberg. Wie sicher ist jüdisches Leben in Deutschland, speziell im Südwesten? Wie bedroht fühlen sich Jüdinnen und Juden? Ein Lage- und Stimmungsbild.
Terror-Anschlag und Gewaltaufrufe: "Doppelte Belastung"
Der Terroranschlag auf die israelische Zivilbevölkerung und die Gewaltaufrufe gegen Jüdinnen und Juden stellen „eine doppelte Belastung“ dar. Das sagte kürzlich Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK e.V., einer Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. OFEK hat auch einen Standort in Baden-Württemberg. „Unser Beratungsaufkommen hat sich vervielfacht, zudem gibt es hohen Bedarf an stabilisierender psychologischer und pädagogischer Beratung für Eltern, Kitas, Schulen. Die antisemitische Grundstimmung erschwert den Trauerprozess in den Communities."
Dr. Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus, steht im ständigen Austausch mit Jüdinnen und Juden. Diese seien „auch in Baden-Württemberg durch die mörderischen Terroranschläge der Hamas gegen die Republik Israel und auch durch die weltweite Wirkung ihrer Propaganda erschüttert“, so Blume. „Vor allem muslimischer Antisemitismus wie beim Pogrom von Dagestan, aber zusätzlich auch linker Antisemitismus wie in Berlin, London, an US-Hochschulen oder durch Greta Thunberg wurden durch die brutalen Schockvideos getriggert und aufgepeitscht.“
Mob jagt Juden in Dagestan: Antisemitische Vorfälle häufen sich
In der muslimisch geprägten russischen Teilrepublik Dagestan hatten regelrechte Mobs in den letzten Tagen Jagd auf Jüdinnen und Juden gemacht. Ein Flugfeld wurde gestürmt, nachdem eine Maschine aus Tel Aviv gelandet war. Polizisten und Zivilisten wurden bei den antijüdischen Übergriffen verletzt. Bereits einen Tag zuvor waren Menschen in ein Hotel eingedrungen, in denen sie Geflüchtete aus Israel vermuteten. Medienberichten zufolge kontrollierten sie Pässe der Hotelgäste.
Die Bilder aus Dagestan stehen für Prof. Barbara Traub in einer Reihe mit weiteren Vorfällen. „In Wien ist die Halle des jüdischen Friedhofs angezündet worden“, so die Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) mit Sitz in Stuttgart. Vorfälle wie diese gebe es derzeit laufend – „und es ist derzeit auch nicht zu erwarten, dass sich das ändert.“ Ausschlaggebend dafür, dass das Sicherheitsgefühl in ihrer Gemeinde erschüttert wurde, sei aber der Terrorangriff der Hamas gewesen. Alles, was folgt, seien nur „weitere Bausteine“ dieser Erschütterung.
Barbara Traub: Sicherheitsgefühl ist durch Hamas-Terror erschüttert
„In den ersten Tagen haben wir sehr viele Unterstützungserklärungen bekommen, Politikerinnen und Politiker haben mit uns Kontakt aufgenommen“, so Traub. Auch jetzt erhalte man von vielen Seiten noch Angebote der Unterstützung. Mit den Sicherheitsbehörden stehe man in engem Austausch, sofort seien Sicherheitsvorkehrungen erhöht worden. „Aber das eine ist die Sicherheitsalge, das andere das Sicherheitsgefühl.“
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sprach gegenüber der Augsburger Allgemeinen von "psychischem Terror" auf Deutschlands Straßen. Behörden und Meldestellen erfassen zurzeit eine steigende Zahl antisemitischer Vorfälle und Straftaten. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sorgt sich um die Sicherheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Das sagte er im Interview mit dem „Spiegel“. Die Sicherheitsbehörden sehen für die IRGW eine „abstrakte Gefährdung“. Was heißt das?
Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität liegen laut Landeskriminalamt derzeit „keine Erkenntnisse vor, aus denen sich eine konkrete Gefährdung für israelische Einrichtungen und Interessen in Baden-Württemberg ableiten lässt“, so ein Sprecher. Die aktuellen Entwicklungen rund um den Nahostkonflikt seien aber „grundsätzlich […] dazu geeignet, eine hohe Gefährdungsrelevanz zu entfalten.“ Man lege deshalb einen noch höheren Fokus auf den Schutz dieser Einrichtungen und stehe mit den Gemeinden im ständigen Austausch.
Palästina-Demos: Jüdinnen und Juden sollen sich in Stuttgart frei bewegen können
Die IRGW hat in einem Brief an ihre Mitglieder Hinweise für die Sicherheit veröffentlicht. „Vermeiden Sie Ansammlungen als jüdisch erkennbarer Menschen außerhalb [der Gemeinde]“, steht darin beispielsweise. Oder: „Meiden Sie anti-israelische Veranstaltungen und lassen Sie sich nicht provozieren.“ Auf der Website der IRGW werden daneben aktuelle, pro-palästinensische Demonstrationen in Stuttgart aufgelistet.
Ein offizieller Aufruf diese Demos zu meiden sei das nicht, nur eine Information. „Diese Sicherheitshinweise, das ist eine zwiespältige Sache“, sagt Barbara Traub. Demos sollten nicht dazu führen, dass Jüdinnen und Juden sich einschränken und sich in Stuttgart nicht mehr frei bewegen. „Die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen müssen sich eher überlegen: Welche Demos lässt man zu, und wo schränkt man auch ein.“ Demokratie müsse man auch mit dem Setzen von Grenzen verteidigen, wo es nötig ist.
Antisemitismus: "Die Situation hat sich insgesamt verschlechtert"
Der Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober an vielen Stellen deutlich zutage tritt, habe auch ganz private Folgen für Jüdinnen und Juden, sagt Michael Blume. „Es zerbrechen mitunter auch langjährige Freundschaften, wo es Nichtjuden nicht gelingt, zwischen dem auch nach innen mörderischen Terror der Hamas und den berechtigten Anliegen der Palästinenser zu unterscheiden“, so Blume. „Manche wollen nicht einmal wahrhaben, dass Israel 2005 Gaza samt aller Siedlungen räumte, auf ‚Land für Frieden‘ setzte. Da fließen Tränen der Sorge und auch der Enttäuschung.“
„Die Situation hat sich insgesamt verschlechtert, das haben wir schon gemerkt“, so Traub. Baden-Württemberg sei „ein relativ ruhiges Pflaster“, keines, „wo man die Menschen sehr schnell aufhetzen kann.“ Kippen könne die Stimmung in der aktuellen Situation trotzdem jederzeit. „Mann muss deshalb genau schauen, wo Hass gepredigt wird, und dann auch eingreifen.“ Man müsse auf der Hut bleiben und Gesetze zur Anwendung bringen.
Unterstützung für Jüdinnen und Juden: Wie kann man helfen?
Dass Mitglieder ihrer Gemeinde nun darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen, das habe Barbara Traub noch von niemandem gehört. „Man rückt vielleicht näher zusammen in diesen unsicheren Zeiten.“ Sie beobachte, dass sich mehr ausgetauscht werde, Netzwerke entstehen, auch über Soziale Medien. Man bestärke die Mitglieder der Gemeinde darin, aktiv zu bleiben. „Jeder Anschlag hat auch das Ziel, eine psychische Bedrohung auszulösen, Menschen einzuschüchtern und zu isolieren“, so Traub. Die IRGW versuche, dagegen zu arbeiten.
Was können Menschen von außerhalb der Gemeinde tun, um Jüdinnen und Juden zu unterstützen? Man könne für die Opfer des Terrors spenden, sagt Barbara Traub. Oder Aufrufe starten, dass die vielen Geiseln, die sich noch in den Händen der Terroristen befinden, endlich frei gelassen werden. Außerdem sei es wichtig, dass man mit den jüdischen Gemeinden in Kontakt bleibe, sich nicht abschrecken lasse. Denn dem Bedrohungsgefühl könne man mit einem anderem entgegenwirken – „dem Gefühl, nicht alleine zu sein“.




