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Stadtfest Göppingen: Warum Ayla Cataltepe (Grüne) sich von der AfD bedroht fühlt

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Die grüne Landtagsabgeordnete Ayla Cataltepe (Walhkreis Göppingen) an ihrem Stand auf dem Stadtfest – dem Ort, an dem alles eskalierte. © Ayla Cataltepe

Ein Vorfall auf dem Stadtfest in Göppingen sorgt bundesweit für Schlagzeilen. Im Zentrum stehen die Landtagsabgeordneten Ayla Cataltepe (Grüne), Hans-Jürgen Goßner (AfD) und ein Mann namens Dieter B., der von der Bild-Zeitung als „AfD-Rentner“ bezeichnet wird. B. behauptet, Cataltepe habe ihn angegriffen. Ihr Anwalt spricht von einer Inszenierung, die Grünen-Politikerin sei bedroht worden. Es gibt mehrere Anzeigen in diesem Fall, in dem Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln. Und es gibt eine Vorgeschichte, die weit zurückreicht. Fest steht, dass hier eine Situation eskaliert ist und es zu einer Auseinandersetzung kam. Die zentralen Fragen lauten: Warum? Und wer hat wen bedroht oder angegriffen – mit welcher Folge? Der Versuch einer Rekonstruktion.

Stadtfest Göppingen: „Blutiger Streit“ oder „haltlose Anschuldigungen“?

„Blutiger Streit zwischen AfD und Grünen“, so titelte die Bild am Montag (11.09.) auf ihrer Website. „Abgeordnete Ayla Cataltepe (51) soll einen Rentner verletzt haben“. Rechte Medien wie die „Weltwoche“ griffen diese Erzählung sofort auf. Die FAZ hob dagegen in einer Überschrift hervor, dass die grüne Landtagsabgeordnete von AfD-Anhängern bedrängt worden sein soll. Der FAZ sagte Cataltepe, sie wolle sich gegen die „haltlosen Anschuldigen“ der AfD zur Wehr setzen. Ein Sprecher der Grünen Landtagsfraktion habe der Zeitung von einem Angriff auf die Politikerin durch einen AfD-Sympathisanten berichtet. Wie passt das zusammen?

Es gibt Punkte in dieser Geschichte, auf die sich alle einigen können. Demnach begann alles am Sonntagnachmittag (10.09.) gegen 15.30 Uhr am Stand der Grünen auf dem Stadtfest in Göppingen. Der Stand war vor dem Büro von Ayla Cataltepe aufgebaut worden. Hans-Jürgen Goßner, kam dort mit seiner Lebensgefährtin vorbei, er machte ein oder mehrere Fotos. Daraufhin kam es zum Streitgespräch zwischen Goßner und Cataltepe. In den Einzelheiten aber, und bei der Frage, was dann geschah, unterscheiden sich die unterschiedlichen Versionen dieser Geschichte aber deutlich.

Hans-Jürgen Goßner: Wie der AfD-Politiker die Situation erlebt hat

Hans-Jürgen Goßner schildert die Situation wie folgt: Er sei mit seiner Lebensgefährtin auf dem Stadtfest gewesen und am Stand von Ayla Cataltepe vorbeigekommen, der sich vor ihrem Wahlkreisbüro befand. „Der war menschenleer“, so der AfD-Politiker. Cataltepe und andere hätten im Büro gesessen. „Meine Begleitung hat gesagt, da hol ich mir eine Birne oder einen Apfel“. Im Vorfeld sei beworben worden, dass Bio-Obst verschenkt werde. Anschließend habe Goßners Lebensgefährtin gesagt, er solle ein Foto machen. „Dann habe ich ein Bild gemacht, dann wollten wir weitergehen.“ Bewusst ins Büro reinfotografiert habe er nicht, es seien maximal ein paar Füße auf dem Foto zu sehen.

In diesem Moment sei Ayla Cataltepe „rausgestürmt“, so Goßner. „Die Lautstärke war sofort am Limit“. Die Grünen-Politikerin habe gesagt, er solle verschwinden, er hätte hier nix zu suchen. „Dann habe ich sie im ruhigen Ton gefragt, ob sie mir allen Ernstens im öffentlichen Raum einen Platzverweis erteilen möchte.“ Das „verbale Scharmützel“ sei dann hin und her gegangen, bis Cataltepe gesagt habe, sie rufe die 110 an.

Ayla Cataltepe: Sorge vor Fotos, die auf Facebook landen

Der Anwalt von Ayla Cataltepe bestätigt diese Version teilweise. Seine Mandantin habe mit einer Mitarbeiterin und Gästen im Büro gesessen und habe bemerkt, dass Goßner Fotografien machen wollte oder bereits machte. „Sowohl vom Stand als auch vom Wahlkreisbüro“, so der Anwalt. Durch die große Fensterfront wäre auf den Fotos ersichtlich gewesen, wer sich im Inneren aufhält, so die Befürchtung. Die Grünen-Politikerin sei daraufhin „energisch raus“ und habe klargestellt, dass sie keine Fotos wünsche, die dann „wieder auf der AfD-Facebookseite auftauchen“ könnten. Cataltepe habe sich bedroht gesehen und ihre Mitarbeiterin gebeten, ihr Handy zu holen, damit sie die Polizei rufen könne.

Eskalation vor dem Wahlkreisbüro: „Ich brauche Zeugen“

„Durch die Lautstärke“ der Auseinandersetzung seien aus Cataltepes Büro und anderer Richtung Leute gekommen, behauptet Hans-Jürgen Goßner. Von den Grünen und der SPD, insgesamt zehn, „vielleicht ein paar mehr“. Diese Leute seien „nicht zufällig gekommen, die wurden gerufen“, sagt der AfD-Politiker. Er habe deshalb selbst auch „Leute von der AfD“ angerufen – „hier gibt’s Ärger, ich brauche Zeugen.“

Ayla Cataltepe widerspricht: „Er hat in dem Augenblick, wo ich den Hörer in der Hand hatte und mit der Polizei telefonierte, sofort das Handy gezückt und seine Leute gerufen.“ Zu diesem Zeitpunkt seien nur die Gäste aus ihrem Büro dabei gewesen, ihre Mitarbeiterin habe erst danach von anderen Ständen – beispielsweise dem der SPD – Unterstützung geholt. „Weil die demokratischen Parteien sich im Vorfeld schon verständigt hatten, dass man sich gegenseitig hilft, wenn die AfD sich in bedrohender Kulisse aufbaut“, so ihr Anwalt. „Da hat sich schon eine große Menschentraube versammelt“. Etwa zehn Unterstützer der AfD hätten seine Mandantin umgeben, er nennt es eine „richtige Umzingelung“.

Die Fäden der unterschiedlichen Versionen dieser Geschichte laufen für kurze Zeit zusammen. An dem Punkt, an dem sich eine kleine Menge von Menschen beim Stand vor Alya Cataltepes Wahlkreisbüro versammelt hat. Was dann passiert ist, darüber ist ein heftiger Streit entbrannt.

Anwalt von Cataltepe: AfD-Mann habe die Politikerin „gepackt“

AfD-Politiker Goßner kann sich an die Abfolge der Ereignisse nicht mit Sicherheit zurückerinnern, räumt er ein. Zwei Polizisten seien hinzugekommen, als sich die Menschentraube gebildet hatte, sagt er. Einer habe sich mit ihm, einer mit Ayla Cataltepe unterhalten. „Weil ich mit dem Beamten geredet habe, konnte ich vieles bis alles gar nicht mehr richtig beobachten“, so Goßner. Es habe ein tumultartiges Gemenge gegeben. Aus dem Augenwinkel habe er wahrgenommen, dass „ein Arm geflogen“ sei. „Und ich weiß, dass kurze Zeit später der Herr B. bei uns stand, mit dem blutigen Arm.“

Der „AfD-Rentner“ Dieter B. behauptete gegenüber der Bild, er habe schlichten wollen, und dafür Cataltepe an der Schulter berührt. Nach eigener Aussage wollte er die Politikerin darauf hinweisen, dass sie von einem Grünen fotografiert wird, während sie gleichzeitig Goßner das Fotografieren verbietet. Daraufhin habe Cataltepe um sich geschlagen und ihn am Arm mit ihren Fingernägeln verletzt. Die Bild-Zeitung zeigt dazu ein Foto, auf dem Dieter B.s Frau ihm einen Verband um den verletzten Arm wickelt.

Der Anwalt von Ayla Cataltepe schildert die Situation anders. Die Grünen-Abgeordnete habe sich mit Herrn Goßner unterhalten, ihn gefragt, was das alles solle. „Dann ist ein Herr, der ihr damals unbekannt war – große Statur, blaues Hemd – auf sie zugegangen.“ Er habe sich Cataltepe bis auf 30 Zentimeter genähert, sie sei zurückgewichen, er sei nachgerückt. Mehrfach. Die stellvertretende Vorsitzende der SPD Göppingen, Martina Heer, habe noch versucht, sich schützend vor Cataltepe zu stellen. Schließlich habe der Mann die Politikerin „gepackt“, „durchaus schmerzhaft im Bereich Schulter und Arm.“ Cataltepe habe den Mann daraufhin angeschrien.

Verletzung des AfD-Mitglieds: Anwalt spricht von Inszenierung

„Von irgendwelchen Verletzungen, dass da etwas zugefügt wurde, ist meiner Mandantin nichts erinnerlich“, so der Anwalt weiter. „Wir halten das für eine inszenierte Angelegenheit.“ Der Mann habe den Arm für das Foto in der Bild-Zeitung „hochgehalten wie eine Trophäe“. Auf dem Bild sei zu sehen, dass es schon eine ältere Wunde sein könnte. Man habe deshalb den dringenden Verdacht, dass es sich um das Vortäuschen einer Straftat handle – und Anzeige erstattet. Es sei die bereits die zweite in diesem Fall, sagt der Anwalt: Beim zuständigen Polizeipräsidium Ulm läge bereits eine Anzeige wegen wechselseitiger Körperverletzung vor. „Nach den Schilderungen meiner Mandantin ist klar, wer der Aggressor ist.“

Polizei und Staatsanwaltschaft müssen sich nun mit diesem Sachverhalt beschäftigen. Die Unschuldsvermutung gilt, in alle Richtungen. Währenddessen haben sich die anderen Parteien, CDU, SPD und FDP, klar positioniert. Dabei wird deutlich: Die AfD ist offenbar bereits vorher auf dem Stadtfest auffällig geworden. Das schildert nicht nur Ayla Cataltepe so.

FDP-Vorsitzender spricht von „SA-Manier“, CDU-Vorsitzende verurteilt AfD ebenfalls

Oliver Stromer, Vorsitzender des FDP-Ortsverbands Göppingen-Schurwald, sagte gegenüber der NWZ, AfD-Mitglieder seien auf dem Stadtfest „in SA-Manier“ aufgetreten. Fünf AfD-Mitglieder hätten sich vor dem Stand seiner Partei aufgebaut, FDP-Mitglieder seien eingeschüchtert gewesen. Auch von anderen Ständen habe es Beschwerden gegeben, hätten ihm die Organisatoren des Stadtfestes mitgeteilt. Wegen der Formulierung „SA-Manier“ wurde Stromer mittlerweile vom AfD-Kreisvorsitzenden Sandro Scheer angezeigt.

Die Veranstalter haben sich dazu bislang auf Nachfrage nicht geäußert. Dafür aber andere: Die SPD-Ortsgruppe Göppingen attestiert der AfD auf Facebook „unterstes Niveau“. Sarah Schweizer, CDU-Landtagsabgeordnete für den Wahlkreis Göppingen, schreibt: „Wie sich Vertreter und Sympathisanten der AfD auf dem Göppinger Stadtfest verhalten haben, hat nichts mit unseren demokratischen Werten zu tun, schreibt sie auf Facebook. „Provozieren, feixen, hier und da ein zugerufenes ‚Vaterlandsverräter‘ und sich in Mannschaftsstärke vor dem Stand anderer Parteien versammeln. Das ist das Niveau der politischen Auseinandersetzung der AfD.“  

Die Vorgeschichte hinter der Vorgeschichte: Streit schon seit dem Wahlkampf 2021

Aber es gibt noch eine Vorgeschichte zur Vorgeschichte. Und auch die spielt eine Rolle. Die AfD und Ayla Cateltepe sind in Göppingen schon häufiger aneinandergeraten. Laut Hans-Jürgen Goßner fing alles 2021 mit Wahlplakaten von Cataltepe für die Landtagswahl an, die plötzlich über seine geklebt worden seien. Die Grünen-Abgeordnete widerspricht: Die Pappe sei im Winter witterungsbedingt weich geworden, die Plakate so auf die von Goßner gerutscht. „Das war keine Absicht“. Goßner habe gleich aggressiv reagiert, überhaupt habe er sie von Anfang an im Fokus gehabt. Weil sie anders aussehe, anders heiße, eine Alevitin und alleinerziehende Mutter sei.

Als es dann in Cataltepes Wohnumfeld eine Auseinandersetzung um einen Kinderroller gab, schlachtete Hans-Jürgen Goßner das aus, sprach von einem Skandal. „Wenn man da einen politischen Geländegewinn erzielen kann, dann macht man das“, sagt er dazu auf Nachfrage. Das sei normal. Ayla Cataltepe sagt, sie habe sich danach nicht mehr sicher in ihrem Zuhause, einem Mehrfamilienhaus, gefühlt. Also habe sie sich anderweitig umgesehen. Goßner verbreitete später das Foto von Cataltepes Baugrundstück, der AfD-Kreisverband Göppingen wurde vom Datenschutzbeauftragten des Landes verwarnt. Goßner hatte das akzeptiert und gesagt, er werde künftig sensibler mit solchen Daten umgehen.

Ayla Cataltepe: „Das ist wie eine Zielscheibe, die sie auf mich gesetzt haben“

Es gab weitere Situationen, in denen Ayala Cataltepe sich von der AfD beleidigt, bedrängt und bedroht sah. Nicht nur in der Vergangenheit. Nach dem Vorfall auf dem Stadtfest in Göppingen waren Mitglieder der AfD am Dienstag (12.09.) in Weilheim beim Besuch des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann vor Ort. Auch Cataltepe war anwesend. Auf Facebook veröffentlichte der AfD-Kreisverband Göppingen danach einen Beitrag, in dem über die Figur von Cataltepe und einer weiteren grünen Landtagsabgeordneten hergezogen wird. Außerdem wird das Auto von Ayla Cataltepe im Detail beschrieben. Nicht das erste Mal, sagt sie. Der Urheber des Beitrags: Der AfD-Kreisvorsitzende Sandro Scheer.

Cataltepes Anwalt sagt, man müsse sich fragen, ob hier Stalking vorliege. „Mein Auto wird beschrieben, meine Kleidung wird beschrieben, wo ich bin, wie ich da hinkomme“, so die Grünen-Abgeordnete. "Das ist wie eine Zielscheibe, die sie auf mich gesetzt haben.“ Das Ziel sei, sie in ihrer Menschenwürde zu zerstören, in ihrer Menschlichkeit. Dass die anderen politischen Parteien sich hinter sie stellen, bedeute ihr viel. „Wir halten zusammen, für eine wehrhafte Demokratie.“

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