True Crime-Podcast aus Stuttgart: Kollektiv macht sexuelle Übergriffe sichtbar
Über 4000 Geschichten von Betroffenen sexueller Gewalt und Grenzüberschreitungen wurden auf der Webseite von "The Sirens Collective" bereits aufgeschrieben. Opfer schämen sich meist so sehr, dass sie niemandem davon erzählen. Kim und Lise wollen das ändern und haben „The Sirens Collective“ gegründet, um Opfer zu Wort kommen zu lassen. Ihr Ziel ist es, laut zu sein und Licht in die Dunkelziffer zu bringen.
Nicht selten liest man in dem Archiv Aussagen wie: „Mir ist erst heute klar geworden, dass das nicht in Ordnung war“ oder aber „Ich mache mir selbst Vorwürfe. Ich schäme mich heute immer noch, dass ich damals so naiv war“. 4174 Geschichten sind es bereits (Stand 21.04., 16.30 Uhr). Das ist eine große Zahl, aber nur ein Bruchteil von dem, was tagtäglich passiert. Nicht nur auf der Straße, sondern auch in den eigenen vier Wänden, und manchmal ist es Betroffenen selbst jahrelang nicht bewusst.
So ist die Idee entstanden, „The Sirens Collective“ zu gründen
Kim ist in Waiblingen groß geworden und wohnt in Stuttgart. Sie hat seit 2,5 Jahren den Podcast „Herz und Sack“. In einer Folge im Februar 2022 spricht Kim über eine Idee: „Wie cool wäre es, wenn immer dann ein Alarmton ertönt, sobald irgendwo auf der Welt ein sexueller Übergriff passiert?"
Lise ist Bildhauerin und hat ebendiese Podcast-Folge gehört: „Ich hatte sofort Bilder im Kopf, wie das aussehen und wie groß das werden könnte.“ Sie war fest davon überzeugt, dass man daraus etwas machen müsse, also hat sie es kurzerhand versucht und Kim eine Nachricht geschrieben. „Sie hat sofort geantwortet“, erzählt Lise.
Über 1000 Beiträge am ersten Tag
Die beiden haben sich dann ein Jahr lang immer wieder per Zoom getroffen und an ihrer Idee gewerkelt, bis dann das Archiv "The Sirens Collective" am 8. März 2023, dem internationalen Frauentag, online gegangen ist. "Sirens" heißt übersetzt "Sirene" und spielt auf den Alarmton an, den Kim in ihrem Podcast angesprochen hat. Das war der erste Schritt, um die Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen zu sammeln: „Wir haben uns überlegt, was wir machen können, um laut zu werden. Mit diesem Archiv wollen wir dann in ganz viele verschiedenen Richtungen denken“, sagt Lise.
Am selben Abend waren es schon über 1000 Beiträge, wie die beiden erzählen. Ein kurzes Video, welches sie auf Instagram gepostet haben, hatte innerhalb von einer Woche über 300.000 Views. „Die Webseite wird immer noch wahnsinnig viel gesucht“, erzählt Lise. Die Zahl sei vor allem am Anfang irre gestiegen. Auch jetzt kommen jeden Tag neue Nachrichten dazu. „Uns ist es wichtig, dass es kein One-Click-Wonder ist, sondern sich wirklich etabliert“, so Lise. Auf der Webseite des Kollektivs findet man auch eine Liste mit Beratungsstellen und Telefonnummern, wo sich Betroffene Hilfe holen können.
Am ersten Tag hat Kim die ersten 1000 Beträge alle gelesen, wie sie erzählt: „Das hat schon etwas mit mir gemacht. Mich hat es in diesem Aktivismus noch mehr angestachelt, weil es angenommen wird und Menschen wirklich ihre intimsten Geschichten dort teilen - auch solche Erlebnisse, die sie 40 Jahre niemandem anvertraut haben."
Geschichten sollen nicht bewertet werden
Beiträge im Archiv können weder gelikt noch kommentiert werden. Die Erlebnisse sollen nicht bewertet werden. „Von einem Übergriff, der „nur“ verbal passiert ist, bis hin zu wahnsinnig unaussprechlichen, furchtbaren Sachen – die gesamte Bandbreite, die wir als schlimm und weniger schlimm einsortieren, soll gleichbehandelt werden“, so Lise. Weil nur eins zähle: Die Erlebnisse haben eine Grenze überschritten.
Name und Ort dürfen genannt werden, müssen es aber nicht. Ansonsten gibt es zwei Regeln: Man darf nur seine eigene Geschichte und nicht die eines anderen erzählen. Bei den Ausführungen der Täter habe außerdem keine Nationalzugehörigkeit etwas zu suchen – „weil es nicht wichtig ist“, sagen die beiden.
Grenzüberschreitungen passieren auch oft in Beziehungen
Wie man aus den Beiträgen herauslesen kann, passieren Grenzüberschreitungen auch oft in Beziehungen. Die Gründerinnen wissen auch, dass vor allem männlichen Personen oft nicht bewusst sei, dass Grenzüberschreitungen im Alltag passieren und oft gar nicht als solche wahrgenommen werden: „Viele Menschen müssen das jeden Tag ertragen. Dieser Effekt von "das war mir gar nicht klar, dass das wirklich etwas Schlimmes ist“ oder "das ist nichts, was ich mir einrede oder ich selbst schuld daran bin“, ist sehr spannend“, findet Kim. „Wenn man diese Beiträge liest, realisiert man oft, dass das einem auch schon passiert ist, und man erkennt: „Ach krass, so was ist ein Übergriff.“
Kim und Lise wollen noch mehr Menschen erreichen und in vielen Köpfen einen Klick-Moment erzeugen. „Das gibt mir Hoffnung“, sagt Kim. „Mir war klar, dass viele nicht sprechen, aber dass diese Plattform für so viele eine Möglichkeit ist, wirklich das erste Mal das Schweigen zu brechen, habe ich nicht erwartet“, sagt Lise. Es koste Überwindung, selbst wenn es anonym ist, diese Sachen aufzuschreiben. „Natürlich setzt man sich nicht gerne jeden Tag mit den Dingen auseinander, die schieflaufen, aber wir versuchen, einen Weg zu finden, um den Zugang möglichst einfach zu machen. Wir müssen da leider immer noch jeden Tag darüber sprechen und noch so viel lauter und unbequemer werden.“
Auch wenn es schon viele ähnliche Geschichten gibt, wollen die beiden jede einzelne lesen. „Wir möchten den Menschen, die das noch gar nicht realisieren, immer wieder vor Augen führen und zeigen, dass es ein aktuelles Thema ist. Es sind schon total viele, aber es sind noch nicht genug“, sagt Lise.
Es gebe auch negatives Feedback, aber das sei eher selten der Fall. Zum Beispiel sei schon die Frage aufgekommen, wer denn beweise, dass diese Geschichten alle echt sind. Über solche Aussagen ärgert sich Kim: „Da bekomme ich so einen Hals.“
Podcast ist in der Kategorie True Crime
Kim und Lise haben auch schon mit dem zweiten Schritt angefangen: ein Podcast in der Kategorie True Crime – „weil es wahre Verbrechen sind, die da begangen werden, jeden Tag und jede Sekunde überall auf dieser Welt.“ Die erste Folge ist am Samstag (08.04.) erschienen. In der zweiten Folge sprechen Kim und Lise auch über persönliche Erlebnisse. Sie wollen auch Geschichten aus dem Archiv vorlesen.
Im Podcast möchte das Kollektiv auch Fragen wie „Was passiert eigentlich, wenn ich Vergewaltiger anzeige?“ klären. Dazu planen sie, Experten aus verschiedenen Gebieten einzuladen, z. B. Menschen, die mit Opfern zusammenarbeiten. Aber auch hier sollen die Opfer selbst zu Wort kommen. Auch Gespräche mit Tätern und Täterinnen können sich die beiden vorstellen.
Das hat das Kollektiv für die Zukunft geplant
Ein Ziel der beiden ist, dass das Archiv auch international bekannt wird und Geschichten aus aller Welt archiviert werden. Außerdem planen Kim und Lise Ausstellungen und Kooperationen. „Wir haben ganz viele Ideen." Als Nächstes möchte das Kollektiv eine visuelle Übersetzung auf eine künstlerische Art auf die Beine stellen.
Außerdem arbeiten sie gerade an einer ersten Finanzierung und haben zur Unterstützung ein Paypal-Konto errichtet. „Wir möchten, dass die Website nicht nur auf Englisch, sondern in allen Sprachen verfügbar ist. Da suchen wir noch nach einer Möglichkeit, alles übersetzen zu lassen“, erzählen Kim und Lise. Denn: Bei einem solch sensiblen Thema fühle man sich in der eigenen Sprache einfach sicherer.