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"Wanderinnen im System": Warum Frauen mit Wohnungslosigkeit anders umgehen

Zimmer der neuen Frauenpension in der Wilhelmstraße.
Zimmer der neuen Frauenpension in der Wilhelmstraße. © Hugh Hinderlider/ Caritasverband für Stuttgart

Von Frauen für Frauen: Die neue Frauenpension in der Wilhelmstraße in Stuttgart-Bad Cannstatt schließt eine Lücke im Hilfesystem. Das Angebot richtet sich vor allem an wohnungslose Frauen, die gesundheitlich eingeschränkt sind. Wir haben mit Mitarbeiterinnen der Caritas Stuttgart gesprochen: über die sogenannten „Wanderinnen im System“, das Problem der Mietprostitution und warum Frauen anders mit Wohnungsverlust umgehen.

„Hier ziehen Frauen ein, die viel erlebt haben"

Die „Frauenspezifische Hilfekonferenz“ habe einen zunehmenden Bedarf von Frauen für Frauen, die nicht versorgt werden können, wahrgenommen. Während Corona war der Bedarf geringer. Das lag aber auch daran, vermutet man, dass es weniger Pendler und Studenten gab, so Birgit Reddemann, Fachdienstleiterin "Hilfen für Frauen" bei der Stuttgarter Caritas. Somit stand insgesamt mehr Wohnraum leer - auch für Menschen, die bis dato kaum eine Chance auf dem Frauenwohnungsmarkt hatten, meint Reddemann. Mittlerweile sind die Wartelisten wieder lang.

„In der neuen Pension ziehen Frauen ein, die viel erlebt haben. Bisher konnte man ihnen nur bedingt helfen, sonst wären sie jetzt nicht in einer Einrichtung der Wohnungsnotfallhilfe“, erklärt Reddemann. Die Bezeichnung „Wanderinnen im System“ kommt daher, weil es eben jene Frauen bisher nicht aus dem Hilfesystem geschafft haben. Während sie also von einer zur anderen Einrichtung "gewandert" sind, waren irgendwann alle Möglichkeiten ausgereizt. Am Ende hat nichts so richtig gepasst. Viele der Frauen sind nicht nur körperlich eingeschränkt, sondern leiden an einer psychischen Erkrankung, sind suchtkrank oder haben ein Trauma erlitten. „Durch das Erlebte sind die meisten schneller vorgealtert“, so Reddemann.

Gleichzeitig zeigte sich die Erfahrung, dass Alten- und Pflegeheime für diese Zielgruppe eher ungeeignet sind, weil diese weder personell dafür ausgestattet noch dafür ausgebildet sind. „Die Frauen, von denen wir sprechen, sind meistens noch gar nicht über 60 bzw. 65, sondern deutlich jünger“, sagt Reddemann.

Die neue Frauenpension ist von außen ziemlich unscheinbar. Es gibt insgesamt 30 Zimmer, darunter eine Notunterkunft. Neun Mitarbeiterinnen der Caritas Stuttgart arbeiten vor Ort. Sozialarbeiterin Lea Philipp ist eine davon. Dass die Frauenpension so unscheinbar ist, diene ein Stück weit auch zum Schutz, wie sie erklärt.

Die Frauenpension Wilhelmstraße von außen.
Die Frauenpension Wilhelmstraße von außen. © Hugh Hinderlider/ Caritasverband für Stuttgart

Wohnungslose Frauen sollen vorübergehend ein geschütztes Zuhause finden

Das ambulante Wohnheim ist fast barrierefrei. Die Sozialarbeiter sind werktags bis 17 Uhr im Haus. Nachts ist ein Wachdienst vor Ort. „Wohnungslose Frauen sollen hier vorübergehend ein geschütztes Zuhause finden, bevor sie weitervermittelt werden“, so Reddemann. Aufgrund der angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt sei die Verweildauer aktuell meist länger als erwartet.

„Sind die Frauen erst einmal hier, schauen wir, was bei ihnen sonst noch im Argen liegt. Wenn man ein Dach über dem Kopf hat, ist es einfacher, sich mit anderen Sachen zu beschäftigen“, weiß Philipp. Der Anspruch sei, eine Krankheitseinsicht erwirken zu können. Wenn das nicht gelingt und die Frau sich nicht auf ärztlichen Rat einlassen möchte, dann sei das aber kein Ausschlusskriterium, so Reddemann.

Die Plätze werden von der Stadt Stuttgart belegt. Es gibt wenige Zugangsvoraussetzungen: Die Frauen müssen sich selbst versorgen können und dürfen kein aktuelles Hausverbot in einem der Frauenwohnheime vorliegen haben. Auch dass manche Bewohnerinnen suchtkrank sind und trotzdem Alkohol konsumieren, ist kein Ausschlussgrund.

Neue Frauenpension in Stuttgart: Alle Angebote sind freiwillig

Es gibt einen Aufenthaltsraum, einmal in der Woche wird gekocht, eine ehrenamtliche Künstlerin bietet eine Kreativwerkstatt an. Außerdem kommen Psychiater, Hausarzt und eine Suchtberatung regelmäßig zur Sprechstunde ins Haus. Reddemann betont: „Wir wollen den Bewohnerinnen nichts aufzwingen – alles ist freiwillig.“ Würde man ihnen Verpflichtungen aufhalsen, würde das nicht funktionieren. Den Frauen soll ein Alltag ermöglicht werden, der so normal wie möglich ist. So muss sich beispielsweise niemand an- oder abmelden.

Oft sei es erst einmal schwer, einen Zugang zu den Frauen zu gewinnen. „Wir bieten immer wieder Hilfe an, halten den Kontakt durch Gespräche im Treppenhaus oder zwischen Tür und Angel aufrecht. Unsere Erfahrungen zeigen, dass es zwar einen langen Atem braucht, die allermeisten Frauen aber irgendwann Vertrauen fassen“, so Reddemann. Die Tür stehe immer offen, um zu signalisieren, dass die Frauen jederzeit willkommen sind.

Konzept der bestehenden Frauenpensionen wurde erweitert

Das Konzept der bestehenden Pensionen wurde erweitert: Um die Sozialarbeiterinnen zu unterstützen, gehört eine Pflegepädagogin zum Team in der Wilhelmstraße. "Eine Kollegin mit einer Pflege- oder Gesundheitsausbildung hat ganz andere Kompetenzen und Herangehensweisen." Reddemann erinnert sich an eine Frau aus einer Einrichtung der Wohnungsnotfallhilfe, die an Krebs erkrankt war. Sie musste eine ambulante Chemotherapie machen. „Die Sozialarbeiterin, die sie betreut hatte, wurde mit so vielen neuen Fragestellungen konfrontiert, die sie einfach nicht beantworten konnte.“

Frauen gehen mit Wohnungsverlust anders um als Männer

In den Frauenpensionen arbeiten ausschließlich Frauen. Einer der Gründe: Viele der Frauen, die hier leben, haben in ihrem Leben Gewalt erfahren - meistens durch Männer. Deswegen sei es auch so wichtig, diesen Schutzraum zu haben – auch wenn es kein Frauenhaus ist und Männerbesuch erlaubt ist.

Insgesamt könne man sagen, dass Frauen mit dem Thema Wohnungsnot anders umgehen als Männer. Reddemann ist sich sicher, dass viele der Bewohnerinnen vermutlich auf den ersten Blick gar nicht als solche identifiziert werden. „Frauen versuchen, so lange wie möglich ihre Fassade aufrechtzuerhalten und sich nicht anmerken zu lassen, wie arm sie eigentlich sind“, weiß Reddemann.

Couch-Hopping und Mietprostitution sind ein weibliches Problem

"Die Straße ist für die meisten Frauen der allerletzte Ausweg, weil sie viel schutzloser als Männer sind", sagt Reddemann. Das Phänomen Couch-Hopping und Mietprostitution sei ein weibliches Problem. Auf dem Weg ins Hilfesystem kommt es nicht selten vor, dass sie Ausbeutung und Erniedrigung erleben müssen. Mietprostitution sei unter wohnungslosen Frauen ein großes Thema: „Im schlimmsten Fall kommen Frauen mit einer Gegenleistung immer irgendwo unter.“ 

Familien in Wohnungsnot werden noch nicht so richtig berücksichtigt

Ein Vorteil: Die Frauenpension nimmt auch die Tiere der Hilfesuchenden mit auf. „Viele Frauen mit Haustieren würden sich eher für die Straße entscheiden, als ihr Tier abgeben zu müssen", sagt Reddemann. Kinder können allerdings nicht mit ihren Müttern einziehen: Familien in Wohnungsnot seien tatsächlich ein Problem. Das Hilfesystem berücksichtigt Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer im Einzelnen. Dass die meisten aber zu einer Familie gehören, werde zwar mittlerweile wahrgenommen, aber noch nicht so richtig berücksichtigt.

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