Dirndl und Lederhose auf dem Wasen: Gehören Trachten aufs Cannstatter Volksfest?
Wenn wankende Wasen-Besucher im flotten Dirndl und fescher Lederhose auf dem Weg zum Bahnhof versuchen, nicht in Erbrochenes zu treten, ist endlich wieder Cannstatter Volksfest in Stuttgart. Diverse Damen werden im herbstlichen Nachtwind frieren, weil sie zu cool für eine Strumpfhose waren. Mehrere Männer werden ihre Wertsachen verlieren, weil sie ihnen nach Maß Nummer vier aus der Lederhosentasche purzeln. Es stellt sich unweigerlich die Frage: Ist Tracht wirklich das geeignete Wasen-Outfit? Nein, findet unsere Autorin.
Das Cannstatter Volksfest 2006: Früher war mehr Freizeitkleidung
Vorab sei klargestellt: Ich bin begeisterte Volksfest-Besucherin. Ich habe meine Freude an Fahrgeschäften, Festzelten und Fassbier. Aber ich bin alt. Nicht so alt, dass ich die Mondlandung miterlebt hätte, aber eben so alt, dass ich mich an das Volksfest im Jahr 2006 erinnere. Beweisfotos wurden im heiligen Jahre der Jürgen-Klinsman-Festspiele mit einer sogenannten “Digi Cam” geknipst. Sie sind größtenteils überbelichtet und unscharf. Aber ein Detail ist auf allen zu erkennen: Keine Sau trägt Tracht. Auf Bierbänken, vor den Buden und am Bahnhof trugen die Leute Freizeitkleidung.
Keine Angst vor Brandlöchern
2006 war ein einfaches Jahr für Wasen-Outfits. Man wählte das T-Shirt, bei dem sich der Schweiß bei den tropischen Zelt-Temperaturen am wenigsten abzeichnete. Die Volksfest-Hose war die, aus der sich die Flecken der Bierdusche am besten wieder auswaschen ließen. Und wenn der Raucher auf der Bierbank nebenan das “Lasso” rausholte und dabei mit seiner Zigarette ein Loch ins Wasen-Outfit brannte, nahm man das in Kauf. Man hatte schließlich nicht den Sonntagsanzug an.
Teure Tracht: Sinnvolle Kleidung auf dem Wasen?
Vieles hat sich seit 2006 auf dem Wasen verändert. In Jeans und T-Shirt hebt man sich in den Zelten deutlich von der Menge ab. Ein regelrechter Hype ist um Dirndl und Lederhosen entstanden. Wer keine Tracht trägt, fällt auf. Und wer nicht auffallen will, muss tief in die Tasche greifen. Und das für ein Outfit, dass man nur wenige Male im Jahr trägt und dass einem keinerlei Gewichtsschwankungen verzeiht.
Vieles hat sich auf dem Wasen aber eben auch nicht verändert. In den Zelten tropft noch immer das Kondenswasser von der Decke. Das Bier trielt aus den Maßkrügen der besoffenen Banktänzer. Und es wird auch 2023 noch so viel geraucht, dass die Kleidung nach dem Festzeltbesuch nur ein bisschen nach Alkohol und Göckele und sehr nach Aschenbecher riecht. Warum Menschen es dennoch für eine gute Idee halten, sich ausgerechnet dafür feine Kleidung für mehrere Hundert Euro zu kaufen, ist und bleibt mir ein Rätsel.
Wer alt ist, ist auch stur
Ich erinnere mich an eine trachtenlose Zeit. Weil ich alt bin. Und wer alt ist, ist auch stur. Und wer stur ist, besteht auf gute alte Zeiten, auch wenn die neuen, gar nicht mal so guten Zeiten den Anschein der Tradition erwecken wollen. Ich trage kein Dirndl auf dem Volksfest. Übrigens auch nicht auf der Wiesn. Weil ich mit Trachten nichts am Hut habe. Und weil ich auch dort lieber auffalle wie ein bunter Hund, als mir ein schweineteures Kleid zu ruinieren, nur um mir am Ende des Abends von einem waschechten Bayern mit "Loferl" und "Haferl" erklären zu lassen, dass das, was ich da trage, eigentlich gar keine "echte" Tracht ist und gehe, bevor er das Stichwort “kulturelle Aneignung” fallen lassen kann.
Nehmen Sie wenigstens eine Mülltüte mit
Ich werde auch 2024 aufs Volksfest gehen. In Jeans und T-Shirt. Und statt mich wieder und wieder für diese Entscheidung zu rechtfertigen, werde ich allen, die mich darauf ansprechen, künftig einfach diesen Artikel schicken. Und falls Sie sich nun auch endlich wieder trauen, zur Volksfest-Hose zurückzukehren, dann denken Sie an mich. Und wenn Sie doch im Dirndl oder in Lederhose feiern wollen, dann machen Sie das! Jeder so, wie es ihm gefällt. Nehmen Sie sich aber bitte eine Mülltüte mit. In der sind wenigstens die guten Trachtenjacken unter dem Tisch vor der nächsten Bierdusche sicher.