Der andere Blick auf Weihnachten
Weihnachten ist ein Fest der Freude - ob im Minidorf oder in der „Wera“-Minifamilie
An Weihnachten hat Tim W. nur schöne Erinnerungen – sowohl aus der Kindheit bei seiner Herkunftsfamilie als auch später im Weraheim. Tim kam als Elfjähriger. Daheim ging es einfach nicht mehr. Heute ist er 21 Jahre alt, hat eine Ausbildung als Krankenpfleger abgeschlossen und arbeitet in einem Klinikum in Stuttgart. Er hatte eine belastete Kindheit mit häuslicher Gewalterfahrung, musste viel aushalten, viel wegstecken und verdrängen. Das Weraheim war die Wende, ab da bekam sein Leben Struktur und eine Richtung. Am liebsten würde er wieder dort hinziehen. „Es war immer ein freundschaftliches Verhältnis, kein Betreuer-Kind-Verhältnis.“ So schön das selbstständige Leben in der eigenen Wohnung auch ist: „Im Wera war’s voll cool, wenn man abends vom Arbeiten heimkommt und man einfach nur eine Stunde reden konnte.“ Er hat bis heute Kontakt. Er habe gespürt, dass die Menschen an ihn glauben, das war neu für ihn. „Mir war es oft gar nicht bewusst, was ich geschafft habe. Aber unsere Bezugspersonen haben mich motiviert und immer gesagt, dass ich stolz sein kann auf das Geleistete.“
Wertschätzung gab es in seinem Elternhaus nicht – nicht, weil die Eltern es nicht wollten, sondern weil sie es schlichtweg nicht schafften, weil sie mit der Erziehung und Förderung der Kinder – Tim hat fünf Geschwister – überfordert waren. Er merke jetzt, was er am Heimalltag hatte: „Es war ein emotionaler Beistand. Der ist auch noch nicht weg. Wenn irgendwas ist, kann ich mich immer noch an sie wenden.“ Auch an Weihnachten werde er vermutlich dort vorbeischauen. Sofern die Zeit es zulässt, denn er feiert mit seiner Ursprungsfamilie. Und die Vorweihnachtszeit ist belegt mit einem Nebenjob: Er hat sich extra Urlaub genommen, um auf einem Weihnachtsmarkt zu arbeiten. Weihnachten – für ihn „die megaschönste Zeit“ im Jahr. „Ich wuchs in einem Minidörfchen auf, da war alles magisch, da war dieser Riesenbaum, den wir als Kinder angestaunt haben. Ich war viel mit den Geschwistern unterwegs, da gab’s noch öfter Schnee und wir konnten Schlitten fahren.“
Vom Minidorf führte ihn sein Weg in die „Mini“-Familie des Weraheims. Hier wird alles getan, den Heranwachsenden eine familiäre Umgebung zu geben. „Wir gestalten ihren Alltag so normal wie möglich – und dazu gehört auch ein schönes Weihnachtsfest“, sagt Sabrina Wiedmann, Teamleiterin der stationären Wohngruppen im Weraheim. Und wie wird gefeiert? „Eigentlich ganz normal, wie man es daheim täte“, sagt sie. Es gibt eine große Gruppenweihnachtsfeier, die mit allen Kindern und Jugendlichen und Betreuern auf der jeweiligen Wohngruppe gefeiert wird. „Wir haben einen Baum, sitzen um einen festlich geschmückten Tisch herum, singen Lieder bei Kerzenschein, hören gemeinsam die Weihnachtsgeschichte an und es gibt immer was Besonderes zu essen.“ Dieses Jahr wird ihre Gruppe „Peanuts“ von einem Betreuer bekocht, der im Erstberuf Koch gelernt hat.
In der Gruppe „Tutum“ dampfen und knistern die Raclette-Pfännchen und am Buffet werden weitere Essenswünsche der Kinder erfüllt. Den Baum schmücken alle gemeinsam, viel Selbstgebasteltes hängt an den Zweigen, er steht im Foyer und sieht jedes Jahr anders aus. Die Kinder werden nicht als „Härtefälle“ behandelt. „Sie dürfen mit ihrer ganzen Schwere ganz einfach sein, einfach Kinder und Jugendliche sein, betont Yasemin Ertan, die hauptverantwortliche Betreuerin für den Heiligabend im „Tutum“.
Anders als Tim, der bei seiner Familie an Weihnachten traditionell Braten isst und Geschenke auspackt, können viele Kinder nicht zu ihren Ursprungsfamilien. Für sie gibt es zusätzlich zur gemeinsamen Feier ein Extrafest mit einem schönen Essen und Bescherung. Abends ist dann „Kino-Time“, da werden Filme angeschaut und Spiele gespielt. Manchmal kullern Tränen – die seien dann nicht ausschließlich auf eine vielleicht traurige oder zu Herzen gehende Filmhandlung zurückzuführen. „Viele Kinder sind traurig, dass sie nicht so feiern, wie sie es in der Schule von anderen Kindern mitbekommen“, sagt Yasemin Ertan. Andere hingegen seien erleichtert, der familiären Tragik entkommen zu können und in der Obhut des Weraheims den weihnachtlichen Zufluchtsort zu haben. „Wir Betreuer müssen ganz verschiedene Stimmungen unter einen Hut bringen und eine geborgene Atmosphäre schaffen.“ Kritische Momente können beispielsweise entstehen, wenn die Kinder sehen, wie ihre Mitbewohner die Rucksäcke und Koffer packen, sich auf daheim und ihre Familien freuen und draußen schon die Eltern mit dem Auto auf sie warten. Schmerzlich ist der Prozess auch für jene, die das erste Mal an Weihnachten nicht mit ihren Familien zusammen sein können. Im Weraheim wird alles getan, um sie aufzufangen. „Viele Betreuer kommen außerhalb ihrer Arbeitszeit und sogar aus dem Urlaub, um mitzufeiern“, erinnert sich Tim. Er habe an Weihnachten „auch viel Lustiges“ erlebt. „Es wurde gemeinsam gescherzt, wir haben auch gesungen, wir haben’s zumindest versucht“, sagt er und schaut schmunzelnd zu Betreuerin Sabrina Wiedmann rüber. „Ja, wir waren sehr stimmgewaltig, wir treffen nicht jeden Ton, aber haben viel Spaß“, bestätigt sie – und beide lachen herzhaft über ihren „Schrägton-Weihnachtschor“, den sie da wohl manchmal abgegeben haben. Bei ihm zu Hause wurde nicht gesungen. Dennoch sind die Weihnachtserinnerungen seiner Kindheit im „Minidorf“ eine der wenigen positiven Episoden, die er aus seiner schweren, oft emotional entbehrungsreichen Vergangenheit mitnehmen durfte. Er wahrt diese Momente bis heute, hütet sie wie einen Schatz in sich. So wie er den Kontakt zur Wera-Familie bis heute pflegt, so geht er auch heute noch gelegentlich zu seinen Wurzeln in der Adventszeit – „einfach so zum Baum, der immer noch in der Dorfmitte steht“.
Das Weraheim
- Das Weraheim in Hebsack ist eine heilpädagogische Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in der Trägerschaft der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva)
- Zwei Innenwohngruppen bieten je acht Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 21 Jahren ein Zuhause, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr in ihren eigenen Familien leben können. In der Jugendwohngemeinschaft (JWG) gibt es vier Plätze für junge Geflüchtete.
„Wera“-Weihnachtstermine
- Das Weraheim beim Lebendigen Adventsfenster der Gemeinde: Sonntag, 15. Dezember, es gibt Punsch, Lieder und Gebäck
- Am 8.12.: Stand auf dem Remshaldener Weihnachtsmarkt, Waffeln, Punsch und Gebäck