Wie Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat Talente scoutet
Geht es nach Trainer Pellegrino Matarazzo, ist die Unterschrift von Sven Mislintat unter einen neuen Vertrag beim VfB Stuttgart nur noch Formsache. „Ich gehe davon aus, dass er bleibt“, antwortet der Cheftrainer des schwäbischen Bundesligisten auf die Frage, ob er damit rechne, dass der Baumeister des aktuellen Stuttgarter Kaders auch über den 30. Juni 2021 für den VfB arbeiten wird. Was ihn da so sicher mache? „Ich glaube, dass ein produktives, konstruktives, gutes Gefühl herrscht im Team. Ich glaube, das ist ihm wichtig.“
Weiter lobt Matarazzo die Arbeit des 47 Jahre alten Kaderplaners in den höchsten Tönen: „Man sieht seine Handschrift, man sieht die Talente, die er verpflichten kann. Sein Netzwerk ist riesengroß. Seine Qualität ist erkennbar.“ Aber wie arbeitet eigentlich ein Sportdirektor, der in der Branche den Beinamen „Diamanten-Auge“ trägt und der unter anderem als Entdecker von Talenten der Kategorie Pierre-Emerick Aubameyang, Jadon Sancho und Ousmane Dembélé gilt?
„Manche Spieler trage ich jahrelang mit mir im Kopf herum“
Die Methode Mislintat lässt sich eindrücklich am Beispiel der Verpflichtung von Wataru Endo beschreiben. Der Japaner ist inzwischen unumstrittener Stammspieler beim VfB und womöglich der einzige Profi im Stuttgarter Kader, der von Trainer Matarazzo mit dem Etikett „unverzichtbar“ versehen wird. Bevor Sven Mislintat den 1,78 Meter großen Mittelfeldspieler im Sommer 2019 zunächst leihweise an den Neckar lotste, hatte er den Spieler bereits seit einem längeren Zeitraum auf dem Radar.
Mislintats Beobachtungen speisen sich aus unzähligen Daten, vielen Stunden Video-Material und dem klassischen Scouting vor Ort im Stadion. Hat sich das „Diamanten-Auge“ aus all den Statistiken, Eindrücken und Analysen ein möglichst umfassendes Gesamtbild eines Spieles erstellt, macht es irgendwann Klick. „Ich komme immer an den Punkt, an dem ich sehr klar in meinem Urteil über Spieler bin“, verriet der VfB-Kaderplaner in der aktuellen Ausgabe des DFL-Magazins. Dem renommierten Sportjournalisten Ronald Reng sagte er: „Manche Spieler trage ich jahrelang mit mir im Kopf herum.“
Was Mitbewerber abschreckt
Als Endo 2018 vom japanischen Erstligisten Urawa Red Diamonds nach Belgien zum VV St. Truiden wechselte, verschlechterten sich zunächst seine statistischen Werte. Die Zweikampfquote sackte ab, auch die Passgenauigkeit nahm ab.
Für Mislintat war das ein Grund zur Freude: „Wenn ich von einem Spieler grundsätzlich überzeugt bin, freue ich mich über ein paar schwache Spiele von ihm. Das schreckt Mitbewerber ab.“ Also schlug Mislintat, der seit April 2019 als Sportdirektor sein Büro an der Mercedesstraße hat, zu. Der „Rohdiamant“ Endo wurde ausgeliehen - und vom damaligen Trainer Tim Walter zunächst kaum beachtet. Eine Fehleinschätzung.
Im Derby gegen den Karlsruher SC debütierte Endo für die Schwaben und überzeugte auf Anhieb. Seitdem ist er aus dem Spiel der Stuttgarter eigentlich nicht mehr wegzudenken. Der 27 Jahre alte Japaner hat sich mittlerweile von einem weitgehend unbekannten Profi zu einem der besten Zweikämpfer in der Bundesliga entwickelt. Auf der Sechserposition stabilisiert er die junge VfB-Truppe durch seine Zweikampf- und Kopfballstärke, durch sein präzises Passspiel belebt er die Offensive. Er ist der Schlüsselspieler im Spiel des Aufsteigers.
Wann kommt der nächste Entwicklungsschritt?
Rund um Wataru Endo hat Sven Mislintat in Zusammenarbeit mit Trainer Pellegrino Matarazzo und dem VfB-Scoutingteam einen Kader gebaut, der sich - zumindest so die Eindrücke nach den ersten fünf Spieltagen - als wettbewerbsfähig in der höchsten deutschen Spielklasse erweist.

Auch wenn die Mannschaft nach dem Abstieg und dem Komplett-Umbruch im Sommer 2019 erst zueinander finden musste. Dementsprechend holprig verlief das Jahr im Unterhaus. Ein Risiko, das Sportvorstand Thomas Hitzslperger und sein Kaderplaner allerdings bewusst in Kauf genommen haben. Am Ende wurden sie für ihren Mut mit dem direkten Wiederaufstieg belohnt.
Mislintats Strategie, den VfB mit jungen, entwicklungsfähigen Talenten wieder zu altem Glanz zu führen, war - und ist - allerdings nicht immer unumstritten. Ob junge Spieler wie Momo Cisse (17), Tanguy Coulibaly (19) oder Silas Wamangituka (21) für den nächsten Entwicklungsschritt sechs Monate oder zwei Jahre brauchen, ist schließlich nicht vorhersehbar.
Pionierarbeit im Bereich Scouting und Spielanalyse
Mit seiner analytischen, datenbasierten Herangehensweise war Sven Mislintat vor rund 15 Jahren ein Pionier. Methoden, die heutzutage im Profifußball Standard sind, hat der findige Westfale als einer der ersten in Deutschland entwickelt, genutzt und so die Themenfelder Scouting und Spielanalyse entscheidend vorangetrieben.
Talentsichtung und Kaderplanung bleiben für Mislintat letztlich aber immer auch eine Frage der Risikobereitschaft und des Glaubens an den eingeschlagenen Weg: „Am Ende steht dann der Mut. Der Mut, einen Spieler zu verpflichten. Denn eine Sicherheit, dass er einschlägt, existiert nicht.“
Über Dortmund und London nach Stuttgart
- Der zweifache Familienvater wurde am 5. November 1972 im westfälischen Kamen geboren.
- Seine ersten Schritte im Profifußball ging der ehemalige Oberliga-Fußballer des Lüner SV als Scout bei Borussia Dortmund (2006 bis 2009). Zuvor hatte er an der Ruhr-Universität Bochum Sportwissenschaften studiert. Beim BVB arbeitete er sich zum Chefscout (2009 bis 2016) und letztlich bis zum Leiter Profifußball (2017) hoch.
- Im Anschluss an seine Tätigkeit für die Borussia folgte eine Station als Leiter der Scouting-Abteilung („Head of recruitment“) beim FC Arsenal London in der englischen Premiere League (2017 bis 2019).
- Seit April 2019 ist er als Sportdirektor beim VfB Stuttgart tätig.
- 2016 war er Mitbegründer des Start-up-Unternehmens Matchmetrics, das sich auf die Verarbeitung von Daten für die Bereiche Scouting und Matchanalyse spezialisiert hat und mit zahlreichen Proficlubs zusammenarbeitet.