Angst vor der AfD: Wie Deutschland sich jagen lässt
Mit Thüringen gibt es ein deutsches Bundesland, in dem erstmals seit der Zeit des Nationalsozialismus eine rechtsextreme Partei bei Wahlen wieder stärkste Kraft wurde. Menschen mit Migrationshintergrund erwägen, Deutschland zu verlassen. Man könnte fast meinen, das hätte niemand mitbekommen. Denn statt sich zu überlegen, wie man mit der Bedrohung durch die AfD umgeht, greift man ihr unter die Arme – auch weil viele Medien und Politiker falschen Annahmen aufsitzen. Unser Redakteur Alexander Roth kommentiert.
2018 hatte der damalige Innenminister Horst Seehofer (CSU) gesagt: „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land“. Es war eine Reaktion auf eine tödliche Messerattacke in Chemnitz, für die später ein Syrer verurteilt wurde. Eine Messerattacke, die zu Hetzjagden auf Migranten und rechtsextremen Demos in der Stadt geführt hatte. Und, so wurde es damals schon bewertet, es war auch ein Versuch Seehofers, die CSU vor den Landtagswahlen in Bayern zu positionieren – und einen Wahlerfolg der AfD noch abzuwenden.
AfD und Populismus: "Du kannst ein Stinktier nicht überstinken"
Der Wahlerfolg der AfD kam trotzdem. Und als Reaktion darauf – man mag es heute kaum glauben – änderte die CSU ihre Strategie radikal. „Du musst auf der hellen Seite stehen, brauchst einen klaren Kurs der bürgerlichen Mitte. Und vor allem: Du kannst ein Stinktier nicht überstinken.“ So fasste der damalige CSU-Generalsekretär Markus Blume 2020 im „Zeit“-Interview die wichtigsten Erkenntnisse aus 2018 zusammen. „Ignorieren funktionierte nicht, weil die AfD durch ständige Polarisierung und Provokation ihren eigenen Resonanzboden in Medien und sozialen Netzwerken schafft“, so Blume. „Übertönen war unmöglich, weil sich Populisten nicht übertönen lassen und man am Ende selbst auf die dunkle Seite gezogen zu werden droht.“
Weise Worte. Doch die CSU blieb nicht bei ihrem Kurs. Parteichef Markus Söder steht längst wieder populistisch polternd im Bierzelt. „Das Kernproblem ist, diese Migration wächst uns über den Kopf", sagte er kürzlich im ZDF. "In vielen deutschen Städten fühlen sich auch viele Deutsche nicht mehr zu Hause und sind unsicher, wie es weitergeht." Söder spielt das Spiel der AfD, wie Seehofer 2018. Wie das ausgeht, müsste man in der CSU eigentlich wissen.
Migration begrenzen! Überall tönt der Sound der AfD
Damit wir uns verstehen: Das Problem ist nicht, dass Politikerinnen und Politiker über Probleme mit Migration sprechen. Sondern dass sie so tun, als seien alle Probleme letztlich auf Migration zurückzuführen. Islamistischer Terrorismus in Solingen? Migration begrenzen! Hohe Mieten? Migration begrenzen! Rechtsextreme greifen nach der Macht? Migration begrenzen! So klingen große Teile der deutschen Politik nach Thüringen, Sachsen und Solingen. Aus Handys, Fernsehgeräten, Radios und dem Blätterwald tönen sie im Sound der AfD. Komplexe Probleme, eine vermeintlich einfache Antwort. Die intellektuelle Bankrotterklärung wird als Krisenmanagement präsentiert. Aber warum sollte jemand, der das Original wählen kann, sich für die billige Kopie entscheiden? Und wann hat das jemals funktioniert?
Große Teile der Politik lassen sich von einer rechtsextremen Partei Themen und Ton vorschreiben, im Glauben, sie dadurch einhegen zu können. Was das mit Menschen macht, die vor Terroristen nach Deutschland geflohen sind, oder Menschen mit Migrationsgeschichte, die aus Angst vor der AfD überlegen, das Land zu verlassen? Wir können es nur erahnen. Doch nicht nur die Politik sitzt fehlerhaften Annahmen auf.
Chrupalla bei Markus Lanz: "Erinnerungspolitische Wende" im ZDF
„Ui!“ war so ziemlich alles, was ZDF-Moderator Markus Lanz in seiner Sendung eingefallen ist, als AfD-Chef Tino Chrupalla vor laufender Kamera die Zeit des Nationalsozialismus relativierte. Chrupalla machte sich die Aussage seines Parteikollegen Maximilian Krah zu eigen, der gesagt hatte, nicht jeder, der eine SS-Uniform trug, sei ein Verbrecher gewesen. Chrupalla fügte hinzu: Nicht alle NSDAP-Mitglieder waren Nazis.
Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald, Jens Christian Wagner, kommentierte den Auftritt hinterher sarkastisch: „Ob es überhaupt jemals Nazis außer diesem Hitler gab?“. Es ist der Galgenhumor eines Mannes, dem Menschen wegen seiner Haltung zur AfD in anonymen Briefen den Tod wünschen. Ein Kommentar gewordenes Kopfschütteln.
Überraschend ist an dieser Geschichtsklitterung gar nichts. Sie ist zentraler Bestandteil der AfD-Strategie: „Erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, hatte Björn Höcke das einst genannt. Die Eckpfeiler: Die deutsche Kriegsschuld relativieren, Hitler entdämonisieren und ihn als Verführer darstellen, der die Deutschen angeblich böswillig täuschte. Erinnerungspolitik, so lautet die Erzählung, an der Krah, Höcke & Co. mit Hochdruck arbeiten, sei ein Mittel der Unterdrückung. Historische Wahrheit? Spielt keine Rolle.
Die große Fehleinschätzung: AfD lässt sich nicht in Talkshows entlarven
Markus Lanz hätte das ahnen können. Nein: Ahnen müssen. Das alles ist längst bekannt. Aber ganz offensichtlich war der Talk-Master darauf nicht vorbereitet. Stattdessen wurde die Sendung, die seinen Namen trägt, zum Propagandavehikel rechtsextremer Kräfte. Warum?
In Teilen der Medienlandschaft, wo man sich weigert, die AfD als die rechtsextreme Partei zu benennen, die sie ist, glaubt man offenbar noch immer, die Partei entzaubern zu können. Talkshows sind das absurdeste Beispiel für diese Fehleinschätzung: Hier wird AfD-Politikern ein Mikrofon unter die Nase gehalten, damit sie ihre menschenverachtenden Thesen ungefiltert einem möglichst großen Publikum unterbreiten können. Einordnen? In der Live-Situation kaum möglich, selbst bei bester Vorbereitung. Weil Fakten quasi keine Rolle spielen.
Gefühle statt Fakten: Propaganda von Höcke bis Hitler
Die rechtsextreme AfD überzeugt Menschen nicht auf Faktenbasis. Sie hat auch keine Lösungen. Sie appelliert an die Emotion. Der Autor und Propaganda-Experte Peter Pomerantsev schreibt in seinem Buch „how to win an information war“ in Bezug auf Hitler-Reden: „Hitlers Macht entstammte nicht so sehr seiner Fähigkeit, Menschen mit guten Argumenten zu überzeugen, sondern seiner Fähigkeit, Gefühle zu artikulieren, die diese Menschen in sich trugen, und sie auf eine emotionale Reise mitzunehmen; vom Gefühl, gedemütigt zu sein, dahin andere zu demütigen.“ Höcke ist nicht Hitler – aber die Wirkungsweise von AfD-Propaganda lässt sich kaum treffender zusammenfassen.
Neurechte Medien: Wo Journalismus an sein Limit kommt
Um die AfD herum hat sich längst eine Blase neurechter Medien gebildet, die ins selbe Horn blasen. Im Gegensatz zu etablierten Medien haben sie keinerlei journalistische Prinzipien, sondern verfolgen strategische Ziele. Statt Fakten bieten sie Identität. Eine Welt, in der die Grünen immer die Bösen sind, Migration an allem Schuld ist und der weiße deutsche Mann als leidgeprüftes Wesen bedauert wird, gegen den sich die ganze Welt verschworen hat. Der Reiseführer zur „emotionalen Reise“, sozusagen. Da hilft kein Faktencheck mehr.
Journalismus kommt hier an sein Limit. Etablierte Medien verfolgen keine strategischen Ziele, sie sind der Wahrheit verpflichtet. Sie können identitätsstiftend wirken, vor allem im Lokalen. Sie können sich, in geringem Maße, auch auf AfD-Wahlergebnisse auswirken, wie eine Studie nahelegt. Aber das sind Nebeneffekte. Eines aber können Medien tun, ohne dabei ihre Prinzipien zu verraten: Einer rechtsextremen Partei nicht durch grobe Fahrlässigkeit in die Hände spielen.
Zivilgesellschaft unter Druck: Was wurde aus den Massendemos gegen die AfD?
Und die Zivilgesellschaft? Die ist mächtig unter Druck. In Thüringen und Sachsen dominieren Rechtsextremisten mancherorts wieder das Stadtbild. Die Springerstiefel sind zurück. Menschen leben in Angst. Die Massenproteste gegen Rechtsextremismus im Frühjahr, an denen Millionen in der ganzen Bundesrepublik teilnahmen, sind verpufft. Politische Konsequenzen daraus gab es kaum.
Stattdessen reden Politikerinnen und Politiker in Talkshows darüber, wie man die Sorgen von erwachsenen Menschen, die wissentlich eine rechtsextreme Partei gewählt haben, ernster nehmen müsse. Als wären es Kinder, die man mit ein bisschen mehr Fürsorge wieder nach Hause, in die Arme der Demokratie locken könnte.
Es ist zum Verzweifeln. 2017 sage Alexander Gauland: „Wir werden sie jagen!“. Als Konsequenz daraus hätte man der AfD, um in der Metapher zu bleiben, das Gewehr wegnehmen müssen. Stattdessen malt man sich Zielscheiben auf den Rücken.