Meinung

Solingen, Sellner und die AfD: Propaganda im Windschatten des Leids (Kommentar)

Wahlkampf AfD in Thüringen
AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke bei einer Wahlkampfveranstaltung, einen Tag nach dem mutmaßlichen Anschlag von Solingen. © picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Ein Mann hat am Freitagabend (23.08.) auf dem Stadtfest in Solingen drei Menschen getötet. Vier Menschen wurden lebensgefährlich verletzt, zwei weitere schwer und zwei leicht. Tatverdächtig ist ein 26 Jahre alter Syrer, der Medienberichten zufolge als Asylbewerber nach Deutschland eingereist sein soll. Schon bevor das bekannt wurde, begannen die rechtsextreme AfD und ihr Umfeld die Tat für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Um die Opfer scheren sie sich dabei nicht, kommentiert unser Redakteur Alexander Roth.

Ein mutmaßlicher Akt von islamistischem Terrorismus – und ein Journalist schreibt über Rechtsextremismus? Ich verstehe alle, die das irritiert. Lassen Sie mich deshalb vorab ein paar Dinge klarstellen:

Die schrecklichen Morde von Solingen sind durch nichts zu rechtfertigen. Es klingt wie eine abgedroschene Floskel, aber meine Gedanken sind bei den Verstorbenen und ihren Angehörigen. Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Text schreibe.

Islamistischer Terror: Gefahr für die freie Gesellschaft

Islamistischer Terror ist eine große, nicht zu verharmlosende Gefahr für unsere freie Gesellschaft. Das gilt unabhängig davon, ob die Terror-Organisation IS, die sich zu den Morden bekannt hat, tatsächlich dahintersteckt. Es ist gut, dass Medien regelmäßig über diese Gefahr berichten. Alles, was jetzt über die Taten von Solingen ans Licht kommt, verdanken wir der hartnäckigen Recherche von Kolleginnen und Kollegen.

Kritik an Politik und Sicherheitsbehörden ist gerechtfertigt. Denn es gibt vieles, das sich hier diskutieren lässt – von Präventionsmaßnahmen über Sicherheitskonzepte bis hin zu Wortmeldungen, die fehl am Platz wirken. Und ganz konkreten Missständen: Der mutmaßliche Täter, so berichten „Spiegel“ und „Welt“, hätte eigentlich abgeschoben werden sollen – und sei dann untergetaucht.

Die Rufe nach Konsequenzen sind wichtig. Dass es Bemühungen gibt, die Terror-Gefahr einzudämmen, und regelmäßig mutmaßliche IS-Anhänger festgenommen werden, sollte man bei aller Kritik nicht unbeachtet lassen. Dass diese Bemühungen viel zu häufig ins Leere laufen, auch nicht.

AfD instrumentalisiert Solingen: Die Opfer? Nur Mittel zum Zweck

Warum diese Vorrede? Weil die rechtsextreme AfD und ihr Umfeld gerade das Leid von Solingen ausschlachten, um eine Kampagne zu fahren. Eine Kampagne, die jede Differenzierung in den Wind schlägt, um rücksichtslos die eigene Agenda zu stärken. Die Opfer? Nur Mittel zum Zweck.

Als sich am Freitagabend erste Nachrichten und Bilder aus Solingen verbreiteten, war die Informationslage dünn. Der Chef des rechtsextremen AfD-Landesverbands Thüringen, Björn Höcke, teilte ein Video aus Solingen über den Kurznachrichtendienst „X“. Dazu schrieb er: „Schickt die verantwortlichen Kartellparteien in die Wüste! Am 1.9. die Wende wählen.“

Höcke macht Wahlkampf: Kein Wort zu den Opfern

Höcke meint sich damit selbst. Am 1. September sind in Thüringen Landtagswahlen. Höcke will Ministerpräsident werden. Sein erster Impuls, als er von den schrecklichen Taten hört: Wahlkampf machen. Über die Opfer verliert er in seinem Beitrag kein Wort.

Björn Höcke und die AfD haben rege Kontakte zur rechtsextremen Identitären Bewegung (IB). IB-Aktivisten waren zuletzt am Propagandafilm über Höcke beteiligt, andere IB-Aktivisten kamen zur Premiere. Kopf der Identitären Bewegung, ihrer Ableger und Tarnorganisationen im deutschsprachigen Raum: Martin Sellner.

Martin Sellner: "Solingen strategisch betrachtet"

Sellner ist seit dem Treffen zwischen AfDlern, „Werteunion“-Mitgliedern, Unternehmern und Neonazis in Potsdam, das „Correctiv“ aufdeckte, in aller Munde. Er sprach dort über „Remigration“, womit Sellner die massenhafte Vertreibung von Menschen aus Deutschland nach völkischen Kriterien meint. Das machte er schon in der Vergangenheit deutlich.

Nun wittert Sellner eine Chance. Am Samstag (24.08.), als es zu den Taten von Solingen noch immer mehr offene Fragen als Antworten gab, startete er auf „X“ einen sogenannten „Space“. Ein Raum, um sich mit anderen zu unterhalten. Titel: „Solingen strategisch betrachtet“. Auf Telegram sprach er von einem „historischen Zeitfenster“, teilte pseudostatistische Grafiken. Der Tenor: Taten wie die von Solingen würden das „Meinungsfenster weiter nach rechts“ verschieben, so Sellner. Und genau das will er erreichen.

Mord in Asperg: Das Leid der Opfer und Angehörigen ist nur eine Variable

Neu ist das nicht. Als 2022 in Asperg eine 17-jährige Schülerin von einem Syrer getötet wurde, versuchte die Identitäre Bewegung, die grausame Tat für sich auszuschlachten. Gegen den Willen der Angehörigen. In einem Livestream auf Martin Sellners Kanal wusste der Moderator damals weder, wie die Schülerin richtig heißt, noch kannte er den Namen des Ortes. Darum ging es auch nie.

Das Leid ist für Höcke, Sellner & Co. nur eine Variable in einer Gleichung, an deren Ende der eigene Erfolg steht. Alles folgt einer kühlen Verwertungslogik. Menschenverachtende Ideologie lässt keinen Raum für Empathie.

Stattdessen trieft Häme aus den Kommentarspalten. Dass die Morde auf einem Fest stattfanden, das Vielfältigkeit feiert, wird ebenso genüsslich kommentiert wie die Tatsache, dass Handwerkstradition Solingen den Beinamen „Klingenstadt“ eingebracht hat. Man kommt sich dabei offenbar nicht widerwärtig vor.

Ein Video geht viral: AfD und Umfeld rücken mutmaßlich Minderjährigen in den Fokus

Am Tag nach den Morden wurden zwei Frauen in Solingen von einem Team des ZDF interviewt. Die Aufnahme zeigt: Während sie vor laufender Kamera über ihre Trauer sprechen, läuft ein junger Mann ins Bild, mutmaßlich ein Jugendlicher. Die Frauen bemerken ihn nicht, er steht weiter weg. Ob er von dem Gespräch, das gerade geführt wird, überhaupt etwas mitbekommt – unklar. Aber offensichtlich hat er die Kamera entdeckt. Er bleibt stehen, reckt den Daumen nach oben, grinst. Und geht dann weiter.

Bilder und Videos, auf denen sich Menschen einschleichen, grinsen, gestikulieren, sieht man immer wieder. Im Englischen gibt es dafür sogar ein Wort: Photobombing. Es handelt sich um meist harmlose Scherze. Ob es dem jungen Mann darum ging, oder um etwas anderes – reine Spekulation. Eine Möglichkeit von vielen.

Kein Raum für Zweifel: "Daumen hoch zu Solingen-Morden"

Eine Möglichkeit, die AfD-Politiker und ihr Umfeld nicht in Betracht ziehen. Sie verbreiten das Video mit dem Zusatztext: „Talahon gibt Daumen hoch zu Solingen-Morden“. Talahon ist ein Begriff, der als Selbstbezeichnung junger Männer mit Migrationsgeschichte anfing, und schnell als rassistische Beschimpfung umgedeutet wurde. Aus der Geste wird Unterstützung für die Morde gelesen, ohne Raum für Zweifel zu lassen.

Das Video, das sich rasant verbreitet, enthält auch ein Standbild, auf dem das Gesicht des jungen Mannes zu sehen ist. Man wirft einen mutmaßlich Jugendlichen der Meute zum Fraß vor, auf Basis einer Vermutung. Rassismus inklusive.

Feindmarkierung auf "X": AfD-naher Blogger listet auf

Auch das hat Methode. Die extreme Rechte nutzt die Taten von Solingen, wie andere zuvor, um unliebsame Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen als Feinde zu markieren.

Ein AfD-naher Blogger, den die Querdenker-Szene als großen Journalisten feiert, listet auf "X" namentlich auf, wer seiner Meinung nach alles „mitgestochen“ habe: Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten. Die Vorwürfe entbehren jeder Grundlage, werden hineingesendet in eine aufgeheizte Stimmung, an ein Publikum, das durchaus Gewaltpotenzial birgt.

Das Credo bleibt: "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD"

Man mag der Meinung sein, jetzt darüber zu sprechen, wie die extreme Rechte Solingen instrumentalisiert, sei falsch. Lenke vom Wesentlichen ab. Das ist eine legitime Meinung. Ich sehe das offenkundig anders. Von dieser Instrumentalisierung geht eine Gefahr aus.

„Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“, sagte einst der langjährige Pressesprecher der AfD, Christian Lüth. Aktuell profitiert die AfD von der Schwäche der Ampelparteien, die des Problems islamistischer Gewalt nicht Herr werden. Die rechtsextreme Partei und ihr Umfeld werden versuchen, in den kommenden Wochen den Ton der Debatte zu bestimmen, Wählerpotenzial auszuschöpfen, rassistische Deutungsmuster in den Köpfen zu verankern.

Extrem rechte Instrumentalisierung: Wo die Gefahren liegen

Das ist nicht nur eine Gefahr für alle, die nicht ins völkische Weltbild der extremen Rechten passen, oder alle, die jetzt als Feinde markiert werden. Es verhindert auch eine sachliche, differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Und damit nachhaltige Lösungen, die dringend gebraucht werden.

Das auszusprechen mindert nicht die Bedrohung, die von Islamistischem Terror ausgeht. Es leugnet sie auch nicht. Es nimmt der Regierung nicht die Verantwortung, die Bevölkerung besser zu schützen. Es nimmt der Tat nichts von ihrem Schrecken. Und vor allem: Es nimmt den Opfern nichts von ihrer Würde. Etwas, das man von denen, die Propaganda im Windschatten des Leids betreiben, wahrlich nicht behaupten kann.

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