Das Ausmaß des Schreckens: Ermittlungen gegen das 764-Netzwerk im Raum Stuttgart
Ludwigsburg/Stuttgart. Im Raum Stuttgart ist ein 16-Jähriger festgenommen worden, der einer Splittergruppe des „764“-Netzwerks angehört haben soll. Einem Netzwerk, das vor allem Minderjährige systematisch missbraucht und in den Tod treiben will. Wir recherchieren seit Monaten dazu. Nun kommen neue Details ans Licht. Warum die Ermittlungen zu „764“ so schwierig sind – und das Ausmaß des Schreckens in Deutschland erst langsam bekannt wird.
Warnung: Der folgende Beitrag enthält Beschreibungen schwerster Gewalt, thematisiert Kindesmissbrauch und Suizid. Wir haben uns dazu entschieden, diese Fälle zu thematisieren, damit mögliche Gefahren schneller erkannt und richtig eingeordnet werden können. Das Hilfe-Telefon bei sexueller Gewalt erreichen Sie unter der Nummer 0800 2255 530. Hilfe bei Suizidgedanken erhalten Sie unter 0800 111 0 111 oder auf https://www.telefonseelsorge.de/
Terror im Kinderzimmer: Die immense Gefahr, die von „764“ ausgeht
Anfang Oktober schlagen die Behörden zu. Ein 16-Jähriger wird festgenommen, irgendwo im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Ludwigsburg. Der Vorwurf: Gefährliche Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – einer Splittergruppe des „764“-Netzwerks. Das Netzwerk sorgt international für Entsetzen, Ermittler sprechen von finstersten Abgründen und einer immensen Gefahr für die Sicherheit. Das FBI ermittelt in mehr als 250 Fällen gegen mutmaßliche Mitglieder und stuft „764“ als terroristische Vereinigung ein. Warum?
„Terror“ nennen Mitglieder des Netzwerks das, was sie verbreiten, teilweise selbst. Im Kern geht es darum, meist Minderjährige durch Manipulation zu immer schlimmeren Taten zu drängen. Die Täter fordern von ihren Opfern beispielsweise sexuelle Aufnahmen an, mit denen sie später erpresst werden. Sie fordern sie auf, Straftaten zu begehen, Haustiere zu foltern, sich selbst zu verletzen, mit Blut die Namen ihrer Peiniger an Wände zu schmieren oder sich vor laufender Kamera das Leben zu nehmen. Für die Täter sind das Trophäen, die ihr Ansehen im Netzwerk steigern.
Nicht nur „White Tiger“: Auch diesmal kamen Hinweise aus den USA
Der bekannteste Fall aus dem „764“-Netzwerk ist der eines Deutsch-Iraners aus Hamburg, der sich online „White Tiger“ nannte. Gegen ihn läuft aktuell ein Ermittlungsverfahren, weil er unter anderem einen 13-jährigen US-Amerikaner in den Suizid getrieben haben soll. Erste Hinweise auf den Mann hatten deutsche Behörden bereits Jahre zuvor vom FBI erhalten. Die Festnahme erfolgte aber erst im Sommer 2025. Die späte Reaktion sorgt nicht nur bei den US-Ermittlern für Unverständnis. Hat man in Deutschland den Ernst der Lage noch nicht begriffen?
Nun stellt sich heraus: Auch vor der Festnahme des 16-Jährigen im Raum Stuttgart gab es einen Hinweis aus den USA. Das sagte Oberstaatsanwalt Mirko Heim vom Cybercrime-Zentrum der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe auf Nachfrage. „Wir sind dafür sehr dankbar und haben sehr schnell gehandelt“, so Heim. Kritik, dass man hier zu lange gezögert habe, erwarte er deshalb nicht. Nun haben die Ermittler zwei zentrale Ziele: Mögliche Mittäter in Deutschland und anderswo ausfindig machen – und die Opfer identifizieren. Doch das ist gar nicht so einfach. Das Netzwerk ist international tätig und hat kaum feste Strukturen. Die oft minderjährigen Mitglieder können von überall stammen. Genau wie ihre Opfer. Sie brauchen nur einen Internetzugang.
Opfer fühlen sich wertlos: „Meine Tochter hat aufgehört zu essen, aufgehört zu schlafen“
„764“-Mitglieder finden ihre Opfer auf Online-Plattformen wie Discord, Telegram oder Roblox. Sie bauen Vertrauen zu ihnen auf, nur um es später zu missbrauchen. Sie bringen Kinder und Jugendliche dazu, ihre Peiniger als Autorität anzuerkennen. Bringen sie unter ihre Kontrolle. „Meine Tochter hat aufgehört zu essen, aufgehört zu schlafen“, sagte die Mutter einer 14-Jährigen, die in die Fänge des Netzwerks, geriet gegenüber der BBC. „Sie haben sie erniedrigt, bis sie dachte, sie sei nichts wert ohne die Gruppe, aber auch nichts wert mit ihr.“
Diese Wertlosigkeit ist zentraler Bestandteil von „764“. Mit Darstellungen extremer Gewalt, die unseren Recherchen zufolge in Chatgruppen herumgereicht werden, stumpfen die Mitglieder sich und ihre Opfer ab. Massenmörder werden verehrt. Menschliches Leben gilt im „764“-Umfeld als wertlos. Die Logik: Wer das verinnerliche, der sei zu grausamster Gewalt fähig.
Mutmaßliche Opfer: Größtenteils minderjährig, größtenteils aus dem Ausland
Der 16-Jährige aus Baden-Württemberg soll nach aktuellen Erkenntnissen zu mindestens elf Opfern Kontakt gesucht haben. Fünf davon soll er dazu gebracht haben, sich selbst zu verletzten. Die Identität dieser Opfer ist noch ungeklärt, ebenso wie das genaue Alter. Den Ermittlern liegt aber Material vor, das sie vermuten lässt, dass „die überwiegende Mehrheit minderjährig ist“. Die Opfer stammen laut Oberstaatsanwalt Mirko Heim wohl größtenteils aus dem Ausland. Behörden aus den USA habe man deshalb bereits um Rechtshilfe ersucht. Die Zusammenarbeit laufe zügig und gut. „Logischerweise ist es aber schon so, dass es länger dauert als im Inland.“ Aus welchen anderen Ländern die Opfer noch stammen könnten, wollen die Ermittler aktuell nicht preisgeben.
„764“ nur eine Gruppe unter vielen: „Es ist überall. An jedem Ort.“
Und es gibt noch eine Schwierigkeit: „764“ steht in einer Tradition zahlreicher anderer Gruppierungen und inspiriert wiederum andere. Gruppen wie „Tempel ov Blood“, „Order of Nine Angels“, „No Lives Matter“ und viele, viele mehr. Sie unterscheiden sich teilweise nur in Nuancen. „Wir müssen uns [764 und ähnliche Netzwerke] weniger als Gruppe, sondern eher als Ideologie vorstellen“, zitierte der US-Fernsehsender ABC News im Mai einen leitenden Ermittler. „Es ist egal, wie sie sich nennen. Es sind jede Menge Akteure da draußen, die zu solchem Verhalten ermutigen. Es ist überall. An jedem Ort.“ So langsam scheint diese Erkenntnis auch in Deutschland durchzudringen.
Worauf können Eltern achten?
Die Polizei Hamburg hat unter https://www.polizei.hamburg/toxic-influence-1068942 einen Leitfaden für Eltern zur Verfügung gestellt. Es werden Warnzeichen aufgelistet und Hinweise gegeben, wie man Kinder vor Netzwerken wie „764“ schützen kann.




