Safer Space zur Fußball-EM in Stuttgart: Wie wird der Rückzugsort angenommen?
Ein Container, der als Rückzugsort und Anlaufstelle dient, steht seit Start der Fußball-EM auf dem Karlsplatz in Stuttgart: In der sogenannten Fanboje sollen Menschen, die diskriminiert werden, Probleme haben oder einfach kurz durschnaufen möchten, Zuflucht finden. Wie viele Fälle wurden bisher verzeichnet und aus welchen Gründen wurde die Fanboje aufgesucht? Wir haben mit der Verantwortlichen der Stadt Stuttgart, Franziska Haase-Flaig und zwei Mitarbeiterinnen vor Ort gesprochen.
Einen Schutzraum gab es bereits auf dem Frühlingsfest - die sogenannte Wasenboje. Der Container der Fanboje ist etwas größer als die der Wasenboje. Es gibt zwei Extraräume, hinter die man die Tür schließen kann. Die beiden Räume sind durch ein offenes Büro verbunden. Hier liegen Hygieneartikel, Taschentücher, Pflaster, Wasser und Infobroschüren aus. Bunte Fähnchen schmücken die Wände. Während sich die Wasenboje vor allem an Frauen richtet, die sexuelle Gewalt erleben, ist die Fanboje eine Anlaufstelle für alle. Wenn so viele unterschiedliche Nationen zusammenkommen und sich Länder bei einer Meisterschaft messen, sei das Konfliktpotential einfach generell größer.
Bisher 120 Fälle in Stuttgart seit Beginn der Fußball-EM
Am Dienstagabend (25.06.) um 20 Uhr teilen sich Hannah Häußermann und Jessica Walz eine Schicht mit zwei anderen. Die ehrenamtlichen Helferinnen tragen hellblaue Westen mit der Aufschrift „Safer Space“. Beide kommen aus dem sozialen Bereich und waren auch schon bei der Wasenboje tätig. Das ist allerdings keine Voraussetzung, um bei der Fanboje zu helfen: Die Mitarbeiterinnen arbeiten in unterschiedlichen Berufen, wie sie erzählen. „Das ist ein Vorteil, weil wir uns so gut ergänzen können“, findet Häußermann.
"Insgesamt wurde das Angebot bisher sehr gut angenommen", sagt Jessica Walz. Von Beginn an bis Montag (01.07.) sind es knapp 120 Fälle, die die Mitarbeiterinnen der Fanboje bisher bearbeitet haben, so Franziska Haase-Flaig, die bei der Stadt Stuttgart in der Abteilung für Chancengleichheit tätig ist. Die Dunkelziffer von Betroffenen, so vermuten Walz und Häußermann, ist wahrscheinlich viel größer.
Safer Space: Sichtbarkeit verbessert
Damit Menschen überhaupt wissen, dass es ein Safer Space während der Fußball-EM in Stuttgart gibt, habe man die Sichtbarkeit deutlich verbessert. So werden Infos zur Fanboje beim Public Viewing auf den Bildschirmen eingeblendet. Überall hängen Plakate sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Neu ist, dass die Fanboje über eine direkte Nummer erreichbar ist: „Mit den Kooperationspartnern in Stuttgart haben wir uns dazu entschieden, eine Nummer nach außen zu geben. Hilfesuchende können sich über Whatsapp oder einen Anruf an unsere Fachfrauen vor Ort wenden“, erzählt Franziska Haase-Flaig.
Safer Space zur Fußball-EM: Fälle von Diskriminierung, Rassismus und häuslicher Gewalt
Wie Walz im Austausch mit ihren Kolleginnen erfahren hat, wurden bereits Fälle von Diskriminierung, Rassismus und häuslicher Gewalt verzeichnet. Fälle konkret zu benennen, sei allerdings immer etwas heikel, weil alles anonym bleiben soll. „Eine Mitarbeiterin hat erzählt, dass sie erlebt hat, wie migrantisch aussehende Menschen sich rechtfertigen mussten, weil sie Deutschlandtrikots getragen haben“, erzählt Walz.
Häußermann berichtet von einer Schicht bei der sie sich kurz auf dem Schlossplatz aufgehalten und sehr unwohl gefühlt hat: „Man hat gemerkt, dass die Stimmung aufgeladen ist. Viele waren betrunken, man wurde direkt sexuell angemacht. Mir war das total unangenehm.“ Generell müsse man aber auch die positiven Erfahrungen aufzeigen, wie Walz findet: „Ich habe das Gefühl, dass die Stimmung trotz allem größtenteils gut ist und die meisten auch super miteinander auskommen.“
Fanboje kooperiert mit Sicherheitsdienst, Polizei, DRK und Mitarbeiter der Fanzone
Die beiden erinnern sich auch an weitere Ereignisse: Ein Paar, dass angepöbelt wurde und Schutz gesucht hatte. Ein Kind, dass seine Eltern verloren hatte, und von der Polizei gebracht wurde, um einen behüteten Aufenthaltsort zu haben. Sicherheitsdienst, Polizei, DRK und Mitarbeiter der Fanzone wissen über das Awareness-Konzept Bescheid und können bei Bedarf vermitteln. „Das hat sich durch die Wasenboje tatsächlich schon gut eingespielt“, findet Haase-Flaig.
Die Helferinnen der Fanboje unterstützen auch bei der Recherche eines sicheren Heimwegs und vermitteln beispielsweise ein Taxis oder begleiten auf dem Weg zur U-Bahn. Die Fanboje kooperiert zudem mit einer Jugendherberge. Hier wird für den Notfall jede Nacht ein Schlafplatz reserviert. Man kann im Container aber auch einfach nur sein Handy aufladen oder kurz durchschnaufen.

Studie zu partnerschaftlicher Gewalt bei Fußballturnieren
Alle Mitarbeiterinnen wurden vorab geschult. „Hier wurden an den Merkmalen Geschlecht, Herkunft, LSBTTIQ und Behinderung zu strukturellen Diskriminierungen sensibilisiert und Handlungsabläufe für die Arbeit vor Ort erprobt“, erklärt Haase-Flaig.
Aber nicht nur Diskriminierung ist ein Thema beim Fußball: Kurz vor der EM weist "UN Women Deutschland" auf die Gefahr partnerschaftlicher Gewalt bei Fußballturnieren hin und legt dabei Studien aus England während der Fußball-Weltmeisterschaften der Männer 2002, 2006 und 2010 offen. Diese zeigen, dass partnerschaftliche Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen zunahm. „Bei einem Sieg des englischen Nationalteams stieg die Zahl der gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt um 26 Prozent, bei einer Niederlage um 38 Prozent“, heißt es in der Mitteilung von UN Women Deutschland.
Ein Grund für den Anstieg häuslicher Gewalt durch Fußballspiele könnte nach Einschätzung der Studie der erhöhte Alkoholkonsum sein. „Klar ist jedoch: Partnerschaftliche Gewalt liegt nicht am Fußball oder am Alkohol, sondern an gewalttätigen Männern.“, sagt Elke Ferner Vorsitzende von UN Women Deutschland.
Erreichbarkeit der Fanboje an Spiel – und spielfreien Tagen
Für das Projekt wurde die Stadt Stuttgart von der UEFA angefragt, einen Safer Space zu stellen. Dafür kooperiert die Stadt auch mit der Landeskampagne „Nachtsam“, die sich für Sicherheit im Nachtleben einsetzt. Der Safer Space ist bis zum 14. Juli an Spieltagen von 13.30 bis 1 Uhr und an spielfreien Tagen von 13.30 bis 23.30 Uhr geöffnet.