Stuttgart & Region

Wie "Between the Lines" mit einer App Suizide von Jugendlichen vermeiden will

Symbol Symbolbild Jugendliche Mädchen traurig psychische Probleme Unsplash
Symbolbild. © a_cat über unsplash.com

Stuttgart. Oliver Kröger wollte 2013 gemeinsam mit einer Gruppe Jugendlicher über Themen sprechen, die sie belasten und herausfinden, welche Hilfsangebote diese Jugendlichen annehmen und brauchen. Aus dieser Projektgruppe heraus entstand die Hilfeapp "Between the Lines", mit der Jugendliche ab 12 Jahren Antworten zu psychischen Problemen bekommen und zu Hilfsangeboten in ihrer Stadt weitergeleitet werden. Im Oktober 2023 startete das Projekt auch in Stuttgart – und fand schnell viel Zuspruch.

Über die App oder die Homepage sollen Jugendliche leichter Zugang zu Hilfe vor Ort, Beratungen am Telefon oder Hilfechats bekommen. In einer Mediathek gibt es außerdem Videos, Podcasts und Beiträge zu verschiedenen Themen wie Internet-Sucht, Scheidung der Eltern oder häuslicher Gewalt. Die Beiträge, in denen Betroffene ihre Geschichte teilen, sollen den Jugendlichen zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Laut Oliver Kröger werden die Beiträge in der Mediathek von "Between the Lines" bewusst ausgewählt und sortiert, damit sie zur Zielgruppe passen und keine Inhalte, die die Probleme von Jugendlichen verstärken könnten, enthalten.

Depression, Sozialphobie und Essstörung: Das belastet Jugendliche

Wie Kröger aus seinem Alltag als Kinder- und Jugendpsychiater berichtet, sehen sich immer mehr Jugendliche mit deutlich größerem Belastungserleben (dem subjektiven Erleben von psychischen Belastungen) konfrontiert. „Seit 2013 steigen die Zahlen kontinuierlich an. Die Probleme, die Kinder und Jugendliche belasten, haben sich verändert. Dadurch sind neue Störungsbilder hinzugekommen“, so Kröger. Vor allem im Bereich Depression, instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline, Sozialphobie und bei Essstörungen beobachte er mehr Fälle. „Corona hat die Symptome massiv befeuert“, sagt Oliver Kröger.

Diese Einschätzung spiegelt auch der DAK Kinder- und Jugendreport 2023. Demnach sind die Zahlen im Bereich Depression, Angststörung, und Essstörungen im Vergleich zum Vorpandemiezeitraum erhöht. Befunde wie Haarausfall und Störungen des Herzschlags, die Hinweise auf Stressreaktionen geben, wurden 2022 häufiger festgestellt. Auch die Anzahl der Diagnosen von phobischen (Angst-)Störungen ist höher als vor der Pandemie.

Zusammenarbeit mit Städten, um Jugendlichen frühzeitig zu helfen

Mit der Hilfeapp will das Team von "Between the Lines" frühzeitig helfen und Prävention betreiben. „Letztendlich geht es darum, Suizide zu vermeiden und die Kosten in der Gesundheitsversorgung enorm zu senken“, so Oliver Kröger. Für die lokalen Hilfsangebote arbeitet "Between the Lines" mit Städten, Landkreisen und Bundesländern zusammen. Die Stadt Stuttgart wurde laut Kröger über die Zusammenarbeit von "Between the Lines" mit der Stadt Düsseldorf aufmerksam und kam direkt auf das Unternehmen zu. Die Ferry Porsche Stiftung habe daraufhin für zwei Jahre die Vollfinanzierung übernommen.

unbenannt-84
Oliver Kröger von "Between the Lines". © Between the Lines

Im Zeitraum von Oktober 2023 bis März 2024 kamen 25 Prozent der Zugriffe aus Stuttgart. Laut Oliver Kröger entspricht das einer Nutzungszahl von circa 11.000 Personen. Im Jahr hat die Hilfeplattform bundesweit 40.000 Aufrufe. „Die Zugriffszahl aus Stuttgart ist eine immens hohe Zahl gemessen daran, dass kein Jugendlicher vorher von "Between the Lines" gehört hatte“, sagt Oliver Kröger. Damit die Online-Hilfe ankommt, seien Offline-Angebote besonders wichtig. "Between the Lines" habe so Plakate und Visitenkarten an Stuttgarter Schulen gebracht. Auf diesen seien jeweils QR-Codes gedruckt, die direkt auf das Stuttgarter Portal führen. „Für die Visitenkärtchen haben wir uns aus pädagogischen Gründen entschieden. So müssen sie sich nicht vor ein Plakat stellen, um den Code abzuscannen, und werden dabei von ihren Mitschüler*innen gesehen", sagt Kröger.

"Between the Lines": Werbung von Ströer am Hauptbahnhof Stuttgart

Auch die Werbeagentur Ströer hatte kostenfrei für "Between the Lines" geworben. Innerhalb von zwei Monaten liefen auf den Digital-Boards unter anderem am Hauptbahnhof Stuttgart zwölf Sekunden lange Videoformate über die Hilfeapp. Die hohe Nutzungszahl aus Stuttgart ist laut Kröger „sicherlich auch auf die Werbung von Ströer zurückzuführen." Im zweiten Jahr in Stuttgart möchte "Between the Lines" an Schulen Workshops anbieten und stärker dafür auf den Sozialen Medien werben. Ob das Projekt auch 2026 weiter in Stuttgart angeboten wird, sei aktuell noch ungewiss.

Das Social Media Team von "Between the Lines" ist teilweise noch minderjährig, die meisten anderen Mitarbeitenden sind unter 25. Der Ansatz: Von Jugendlichen für Jugendliche. Eine Austauschgruppe von fünf Teenagern, die alle um die 18 Jahre alt sind und die App selbst nutzen, befasst sich mit dem Inhalt und der Darstellungsform. Die Beschreibungen der Symptome und Erkrankungen richten sich nach dem ICD 10 bzw. dem ICD 11, mit dem medizinische Krankheiten einheitlich benannt werden. Auf der Homepage sind diese in leichter Sprache definiert.

Kommunen sollen mehr in Prävention investieren

„Die Dringlichkeit, dass es in Deutschland und wahrscheinlich auch europaweit ein solches Portal gibt, steht mittlerweile völlig außer Frage“, sagt Oliver Kröger. Was Oliver Kröger als Problem und Hindernis für seine Arbeit ansieht, ist, dass die Gelder für Kinder- und Jugendhilfe auf Landes- und Landkreisebene und nicht auf Bundesebene verteilt werden. Denn die Zusammenarbeit mit Bundesländern ziehe einen „sehr, sehr trägen Verwaltungsprozess“ mit sich. „Wenn mit Geld argumentiert wird und mir Verwaltungen sagen, dass es zu teuer sei und sie im Haushalt sparen müssen, dann fehlen mir oft die Worte“, sagt Oliver Kröger.

"Wir bräuchten zwischen 1,5 und zwei Milliarden Euro jährlich, um hauptsächlich die Personalkosten abzudecken", sagt er. Bisher hat "Between the Lines" zwei Vollzeitbeschäftigte, drei Teilzeitbeschäftigte und vier Beschäftigte auf Minijob-Basis, der Großteil des Teams sei ehrenamtlich tätig. Am liebsten würde er alle Mitarbeitenden Vollzeit beschäftigen, das betont Oliver Kröger mehrfach, dafür fehle aber das Geld. Er selbst arbeitet mit einer 25 Prozent-Stelle bei "Between the Lines".

Warum bisher nur einige Kommunen in die Prävention und damit in "Between the Lines" investieren würden, ist für ihn unverständlich. Verkaufen will er sein Projekt nicht, auch wenn der Hilfeapp und ihren Mitarbeitenden dadurch voraussichtlich mehr Geld zur Verfügung stehen würde. Jugendhilfe zu verkaufen und Jugendliche für diese Hilfsangebote zahlen zu lassen hält er für eine „schmutzige Idee“.

VG WORT Zahlpixel