Zu viel Stress bei der Arbeit? Startup aus Stuttgart misst mentale Gesundheit
Überfüllte Kalender, von Termin zu Termin hetzen, ständige Ablenkungen, Belastungen durch Corona und fehlende Kommunikation: Für viele Mitarbeiter gehört das zum festen Bestandteil eines ganz normalen Arbeitsalltags. Stress am Arbeitsplatz hat viele Gesichter und kann im Extremfall in Burn-out ausarten. Das Stuttgarter Start-up „improveMID" hat es sich zur Aufgabe gemacht, die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz zu messen und zu stärken. Gegründet aus einem Uni-Projekt, haben Ina Haug (26), Marion Riedel (26) und Diana Kovaleva (25) ein Tool entwickelt, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu analysieren. Aber wie funktioniert das? Ein Gespräch über das Gründen, psychische Belastungen am Arbeitsplatz, Homeoffice und die Vier-Tage-Woche.
Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz: Warum ist das Thema so wichtig?
„Burn-out ist ein großes Thema. Wir haben festgestellt, dass es recht wenig dazu gibt“, sagt Marion Riedel. Es gebe zwar viele Beratungsfirmen, aber wenig automatisierte Tools, die die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz messen können. „Das kann doch nicht sein, dass es zu so einem großen Problem so wenige innovative Lösungen gibt – vor allem aus Baden-Württemberg“.
Wie funktioniert das Tool?
"improveMID" hat also ein Tool entwickelt, welches die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz analysiert. Dieses Tool soll zeigen, was die Mitarbeiter im Unternehmen belastet, aber auch, was gut läuft. Dabei wird online eine Umfrage ausgefüllt, die ungefähr 15 Minuten in Anspruch nimmt. Die Führungskräfte erhalten die anonymisierten Ergebnisse, die nur auf der Teamebene erfasst werden, auf einem Dashboard. Basierend auf den Ergebnissen werden dann Maßnahmen vorgeschlagen. "improveMID" ist der erste Anbieter aus Baden-Württemberg, der diese Vorgehensweise automatisiert anbietet. „Unsere Innovation liegt auch stark beim Fragebogen und in der statistischen Auswertung."
Anhand des Fragebogens werden 23 Arbeitsfaktoren untersucht. Das Ergebnis zeigt dann die Top-Punkte, die verbessert werden sollten. Weil es ein sensibles Thema ist, geht das Start-up, wenn es gewünscht wird, anschließend noch einmal in die Unternehmen. Die Beschäftigten seien meist froh, wenn sie betreut werden und auch Rückfragen gestellt werden können.
Die Fragen wurden zum Teil im Rahmen einer Masterarbeit recherchiert. Die drei standen auch im ständigen Austausch mit ihrem Professor: „Wir haben zwei Masterarbeiten geschrieben, um zum einen das Prinzip der Befragung an sich zu validieren, und zum anderen, um herauszufinden, ob die Mitarbeitenden auf die Art und Weise, wie die Fragen gestellt werden, ehrlich antworten.“ Der Fragebogen ist so konzipiert, dass zu jedem Thema eine Frage und eine Folgefrage gestellt werden. Bei der Folgefrage geht es darum, wie belastend etwas wahrgenommen wird. Denn was die einen als belastend empfinden, könne für die anderen völlig problemlos sein. Das könnte ansonsten irreführend sein.
Burnout ist eine Art von Erschöpfungsdepression
Viele seien der Meinung, dass Depressionen Privatsache seien. Burnout sei aber eine Art von Erschöpfungsdepression und entstehe zu einem großen Teil bei der Arbeit. „Wir möchten die Denkweise ändern. Mentale Gesundheit ist immer noch ein Tabuthema“, wissen die Beiden. Das Team ist immer wieder erstaunt, wenn Führungskräfte direkt und offen über eigene Depressionen oder Angststörungen sprechen – „das ist total schön.“ Auch die Mitarbeiter seien oft erleichtert, dass sie endlich darüber sprechen können. Es sei schon so viel wert, wenn man sich das traut. Die Gründerinnen hoffen, dass immer mehr Unternehmen dieses Thema auf dem Schirm haben. „Wir bieten eine niedrige Hürde, um in das Thema einzusteigen und im Unternehmen zu etablieren“, so Haug.
Start-up ist durch ein Uni-Projekt entstanden
Das junge Team hat sich während seines Masterstudiums Wirtschaftspsychologie an der Hochschule für Technik (HFT) in Stuttgart kennengelernt. Während eines sogenanntn Start-up-Semesters haben die drei direkt mit Kunden gearbeitet, weil sie gemerkt haben, dass es Resonanz am Markt gibt. Das war Ende 2020. Die offizielle Gründung ging im März 2022 über die Bühne. Seit dem letzten Jahr arbeiten ein Werkstudent und zwei Praktikanten mit im Team.
„Improve“ steht für verbessern, aber auch stärken. MID ist eine Abkürzung und steht für „Mental Improvement Diagnostics“ – einen Begriff, den das Start-up ins Leben gerufen hat. Es sei nämlich möglich, mentale Gesundheit zu messen und in Unternehmen zu diagnostizieren, wie die beiden erklären. Gleichzeitig steht MID auch für die Anfangsbuchstaben der Vornamen der drei Gründerinnen.

Was sind Faktoren, die die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz beeinträchtigen können?
„Die Faktoren, die einen großen Einfluss auf unsere mentale Gesundheit haben, können recht vielfältig sein“, erklärt Ina Haug. Ein Faktor sei beispielsweise die Arbeitsorganisation. Dazu gehöre der Handlungsspielraum und die Aufgabenvielfalt. Wichtige Punkte seien auch das soziale Umfeld und die interne Kommunikation. Wird man vom Team und der Führungskraft unterstützt, bekommt man Feedback und wird man wertgeschätzt? „Wenn diese Faktoren gegeben sind, können sie viel Stress lindern. Das ist sehr wertvoll“, weiß Haug.
Belastungen hängen auch oft miteinander zusammen. Überarbeitung sei ein großes Thema. Oft haben Mitarbeiter mit einer hohen Arbeitsmenge zu kämpfen, dadurch entsteht Zeitdruck. Auch Unterbrechungen und Ablenkungen, beispielsweise durch Anrufe, können die mentale Gesundheit beeinträchtigen. Sie können ein Grund sein, warum man mit der Arbeit nicht hinterherkommt. Dadurch wiederum fällt es vielen schwer, nach der Arbeit abzuschalten, weil man einfach nicht fertig wird. Die Energie, die ein Gehirn braucht, um sich wieder neu zu fokussieren, dürfe man nicht unterschätzen. Das kann sehr stressig sein. Das sei auch eine Erkenntnis, die sich in ihren Daten zeigt.
"improveMID" unterstützt und gibt Anleitungen
"improveMID" gibt Anleitungen, wie man die Probleme intern angehen und die Arbeitsstruktur ändern kann. Dass sei aber bei jedem Unternehmen und jede Berufsgruppe sehr individuell. Eine Option bei dem Thema Unterbrechungen wäre es, Fokuszeiten oder Zeiten der Erreichbarkeit zu schaffen. „Unser System wirft Maßnahmenempfehlungen aus“, so Haug. Wenn noch Unterstützung benötigt wird, helfen wir gerne oder verweisen auf Partner oder Experten.
Mentale Gesundheit: Inwiefern spielen Corona und Homeoffice eine Rolle?
Beim Thema Homeoffice hat das Start-up festgestellt, dass ein Mix aus beidem oft die beste Lösung ist. Die komplette Isolation führe oft dazu, dass es den Mitarbeitern mentaler schlechter gehe. Homeoffice könne aber auch eine Chance sein, beispielsweise für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Migräne, weil man zu Hause nicht so vielen Reizen ausgesetzt ist. Es sei schwierig, das zu pauschalisieren. Deswegen sei eine Analyse umso wichtiger.
Ist die Vier-Tage-Woche für die mentale Gesundheit förderlich?
Bei der Vier-Tage-Woche komme es sehr darauf an, wie sich der Arbeitsbelastung dadurch anpasst. „Wenn man einfach nur einen Arbeitstag streicht, dann sind die vier Tage unter Umständen so belastend wie fünf oder vielleicht sogar noch mehr“, sagt Haug. „Es gibt aber auf jeden Fall Arbeitskonzepte, wo eine Vier-Tage-Woche super funktionieren kann.“
Burn-out bekomme man, wenn man zu viel Energie irgendwo reinsteckt und gleichzeitig zu wenig Erholung bekommt. Freizeitausgleich und Energie auftanken seien extrem wichtig. „Das schafft man natürlich in drei Tagen besser als in zwei, deshalb würde ich sagen, dass das schon ein guter Ansatz sein kann. Wir plädieren dafür, wenn möglich, sehr intuitiv zu arbeiten“, so Haug. In manchen Wochen habe man mehr Energie, in anderen weniger.