Dem VfB Stuttgart droht ein Achsbruch: Chef-Entwickler Hoeneß wieder gefordert
Der Abgang von Kapitän und Abwehrchef Waldemar Anton trifft den VfB Stuttgart ins Mark - sportlich, emotional und mit Blick auf die Strukturen in der Mannschaft. Auch Rekordtorjäger Serhou Guirassy steht wohl vor dem Abschied. In den Fokus rückt deshalb einmal mehr Trainer Sebastian Hoeneß, der auch in diesem Sommer seine Fähigkeiten als Chef-Entwickler unter Beweis stellen muss. Das alles unter verschärften Bedingungen. Kann das gelingen?
Die Rückkehr in die Champions League bringt den Schwaben einen Millionen-Segen. Auch der Anton-Transfer wird die Finanzlage weiter entspannen. Gleiches gilt auch für den sich anbahnenden Guirassy-Abschied. Sportlich wird die neue Saison jedoch zu einer Riesenherausforderung. Acht Duelle in der Königsklasse, dazu der DFB-Pokal und die Bundesliga-Partien. Wer seinen Kalender bis zum Jahreswechsel schon mit VfB-Terminen befüllt hat, dürfte einmal kurz durchgeschnauft haben. Puh, da kommt ganz schön was zu auf die Truppe. Und gerade jetzt im Transfersommer droht sich eine für die Stuttgarter brandgefährliche Eigendynamik zu entwickeln. Sie hat in Teilen sogar schon Fahrt aufgenommen.
Ito und Anton bereits weg, Guirassy und Führich könnten folgen
Hiroki Ito hat den Klub bereits verlassen, Waldemar Anton wird folgen. Und im roten Clubhaus rechnet man mit weiteren Abgängen. Chris Führich und Serhou Guirassy? Ein Verbleib wäre mittlerweile die fast größere Überraschung als ein Wechsel. Deniz Undav? Die Verhandlungen mit Brighton kommen nach wie vor nicht voran. Dabei ist keineswegs klar, wie der Stürmer, der sich zuletzt mehrfach offensiv zum VfB bekannt hat, auf das drohende Auseinanderbrechen der Erfolgsformation aus der Vorsaison reagieren würde. Nicht eingespeist in diese Gedankenspiele sind derweil Transfers, die derzeit noch niemand kommen sieht. Was passiert, wenn Maxi Mittelstädt noch ein, zwei gute Auftritte für die DFB-Elf hinlegt? Was, wenn der FC Barcelona im Werben um Angelo Stiller tatsächlich ernst macht?
Aus Fan-Sicht ist all das schier zum Verzweifeln. Die in der vergangenen Saison so stabile, spielstarke und torgefährliche Achse droht auseinanderzubrechen. Das wäre eine Entwicklung, die den Gesetzen der turbokapitalistischen Fußball-Branche folgt und fast schon erwartbar ist. Eine Wucht hat sie dennoch. Schließlich waren die fußballromantischen Hoffnungen vieler Anhänger nicht komplett abwegig. Nämlich, dass die Erfolgstruppe von 2023/24 nach all der Scheiße auch wirklich gemeinsam auf die Reise geht.
Die Mannschaft harmonierte auf und neben dem Platz, die sportliche Perspektive passte durch die Rückkehr in die Königsklasse auch. Und finanziell haben die Herren Anton und Co. am Wasen mitnichten am Hungertuch genagt. Wieso bekommt dieses wunderbar bunte VfB-Bild ausgerechnet jetzt erste Risse?
Wohlgemuth: „Eine herausragende Spielzeit macht uns noch lange nicht zu einem Big Player“
Der designierte Sportvorstand Fabian Wohlgemuth fasste die Schattenseite der Trendumkehr vom Abstiegskandidaten zum Champions-League-Teilnehmer in der Kicker-Montagsausgabe treffend zusammen: „Die Marktwerte unserer Spieler haben sich verdoppelt. Das ist eine nahezu einmalige Situation in Europa. In der Konsequenz führt es dazu, dass wir sportlich derzeit an einem Tisch sitzen, an den wir wirtschaftlich noch nicht gehören“. Es werde noch Zeit brauchen und Geduld erfordern: „Eine herausragende Spielzeit macht uns noch lange nicht zu einem Big Player.“
Es geht also vor allem: ums Geld. Beziehungsweise ums noch größere Geld. Ober sticht Unter. Mit dem kühlen Blick auf die mitunter uferlose Branche ein ganz normaler Vorgang. Das Fan-Herz blutet dennoch. Im Fall von Kapitän Anton ganz besonders.
Auf VfB-Coach Hoeneß und sein Trainerteam wartet eine Mammut-Aufgabe
Gefordert ist angesichts des drohenden Achsbruchs einmal mehr der Chef-Entwickler Sebastian Hoeneß. Der hat die weiß-rote VfB-Karre ja unlängst vom Schrottplatz fit für die Formel I gemacht. Dann muss er eben nochmal ran, sagen jetzt die Pragmatiker unter den Bruddlern. Dann geht’s halt nächste Runde wieder gegen den Abstieg, entgegnen die Pessimisten. So oder so: Auf Hoeneß und sein Trainerteam wartet eine Mammut-Aufgabe.
Dass Hoeneß und sein Staff einer solchen Aufgabe gewachsen sind, haben sie bereits unter Beweis gestellt. Die Mannschaft hat Hoeneß – und das nur kurz zur Erinnerung – im April 2023 auf dem letzten Tabellenplatz übernommen. Auf die Rettung in der Relegation folgte der spektakuläre Höhenflug. Die Basis dafür hatten Hoeneß und Kaderplaner Wohlgemuth auch durch eine stringente Transferplanung gelegt. Und durch die Arbeit auf dem Trainingsplatz.
Hoeneß gilt als Bessermacher, als Spieler-Entwickler. So hat der 42 Jahre alte Fußball-Lehrer zuletzt Chris Führich im Bereich „Effizienz“ auf ein neues Level gecoacht, Enzo Millot im Bereich „Robustheit“ reifen lassen und nebenbei ein Kollektiv geformt, das größer war als die Summe seiner Einzelteile. Vizemeisterschaft, Hoeneß auf den Zaun, Rekorde über Rekorde waren der verdiente Lohn für die guten Leistungen im Trainer-Kerngeschäft: Der tagtäglichen Arbeit mit der Mannschaft. Auf dem Rasen, in Gesprächen, im Scouting und in der Analyse.
Warum die VfB-Sommer-Vorbereitung kompliziert werden dürfte
Genau das wird nun wieder von Hoeneß und seinem Staff eingefordert werden. Wenn auch unter komplizierten Rahmenbedingungen. Die Saison-Vorbereitung wird aufgrund der EM für den einen oder anderen Profi je nach Turnierverlauf später beginnen. Dazu steht in diesem Sommer eine Japan-Reise auf dem Programm. Ein Marketing-Event statt dem klassischen Trainingslager. Zwar wird auch in Fernost inhaltlich gearbeitet werden, doch wer den aktuellen Reiseplan sieht, dem dürfte schnell klar sein, dass die Einheiten nicht an die inhaltliche Tiefe und Intensität eines klassischen Camps herankommen dürften. Zwischen PR-Aktionen, zwei Testspielen und den Reisen vor Ort dürfte dafür schlicht und ergreifend die Zeit fehlen.
Nicht die besten Voraussetzungen für eine Saison, die für Spieler, Coaches sowie für die Athletik- und Physio-Abteilung eine ungewohnte Dreifach-Belastung mit sich bringen wird. 34 Bundesliga-Spieltage, acht Duelle in der Königsklasse und mindestens eine Partie im DFB-Pokal werden es in jedem Fall werden, dazu kommt noch der Supercup gegen Meister Bayer Leverkusen – macht in der Summe also schon mal stolze 44 Pflichtspiele. Je nach Verlauf der CL-Gruppenphase und dem Weiterkommen im DFB-Pokal können daraus aber auch um die 50 Partien werden. Zum Vergleich: In der vergangenen Saison waren es „nur“ 38 (34 Mal Liga, viermal Pokal). Dazu kommt – je nach Losglück im Europapokal – auch noch der Reisestress. Viel Zeit zum Trainieren und Wehwehchen auskurieren wird es für den VfB in der ersten Saisonhälfte jedenfalls nicht geben.
Umso wichtiger wird ein stabiles Fundament sein. Doch das bröckelt aktuell. Auch mit Blick auf die Führungsstrukturen in der Mannschaft. Spieler wie Atakan Karazor und Alexander Nübel werden in der Folge künftig noch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Kreative und pragmatische Lösungen wird deshalb auch Fabian Wohlgemuth wieder abliefern müssen. „Es geht um den nächsten Entwicklungsschritt“, sagt er mit Blick aufs große Ganze am Wasen, „den müssen wir sorgfältig und nicht von falschen Erwartungen geleitet setzen. Sonst haben wir schnell den alten Schluckauf von Euphorie und Enttäuschung.“