Der VfB, die Juden und das NS-Regime: Dr. Richard Ney, der verstoßene Vereinsarzt
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Dabei waren die Fußballvereine in Deutschland ebenfalls willige Handlanger der NS-Ideologie. Auch beim VfB Stuttgart wurden jüdische Mitglieder aus dem Verein ausgeschlossen. Bislang bekannt ist jedoch lediglich ein einziger Fall: der von Dr. Richard Ney. Die Quellenlage ist mehr als dürftig. Ein Einzelfall war der Vereinsarzt aber nicht. Eine Recherche im dunkelsten Kapitel der VfB-Historie.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist ursprünglich am 27. Januar 2023 erschienen. Wir haben ihn anlässlich des Holocaust-Gedenktages noch einmel republisht.
Aufarbeitung der NS-Zeit: Kein Ruhmesblatt der Nachkriegsgeschichte
„Sie gehören zu uns.“ Eine silberne Tafel auf einer Gedenk-Stele aus dunklem Stein erinnert auf dem Platz vor dem Clubzentrum an die ab 1933 aus dem VfB ausgeschlossenen jüdischen Mitglieder. Symbolisch wurden sie am 27. Januar 2019, dem Internationalen Tag des Gedenkens der Opfer des Holocaust, wieder in den Verein aufgenommen und das Kunstwerk aufgestellt.

Über 80 Jahre hat es gedauert, bis der größte Sportverein des Landes ein solches Zeichen gesetzt hat. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten ist beileibe kein Ruhmesblatt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die personelle Kontinuität zwischen dem NS-Regime und der jungen Bundesrepublik erschwerte die Sache über viele Jahrzehnte. Der Sport bildete dabei keine Ausnahme.
Juden beim VfB Stuttgart: Warum lediglich Neys Schicksal bekannt ist
Wäre es da nicht eine Möglichkeit gewesen, die während der NS-Zeit ausgeschlossenen jüdischen VfB-Mitglieder namentlich auf der Gedenk-Stele zu erwähnen? Mit Sicherheit. Es ist bislang allerdings nur eine einzige Lebensgeschichte bekannt, eben jene von Vereinsarzt Dr. Richard Ney. Die Quellenlage im Vereinsarchiv ist mehr als dürftig. Ein Einzelfall war das Schicksal von Ney aber mit Sicherheit nicht.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Richard Ney das einzige jüdische VfB-Mitglied war“, sagt der Historiker Gregor Hofmann, der die NS-Vergangenheit des VfB Stuttgart erforscht und dazu 2018 eine Studie veröffentlicht hat. „Das wäre auch im Vergleich zu anderen süddeutschen bürgerlichen Fußballklubs aus großen Städten unwahrscheinlich.“
Aber: Es fehlen die Quellen, um den Namen und Biografien auf die Spur zu kommen. Was konkret fehlt, sind zahlreiche Ausgaben der Vereinsnachrichten aus den 30er Jahren, ebenso gibt es keine Mitgliederlisten und Protokolle. Viele Dokumente sind verloren gegangen, vielleicht sogar vernichtet worden. Eine zeitaufwendige und systematische Auswertung der Bestände im VfB-Archiv würde jedoch mit Sicherheit weitere Fälle ans Licht bringen. Ein Zufallsfund im Archiv - oder auf dem Dachboden in einem dunkelroten Haushalt - ist nicht ausgeschlossen.
Sensationsfund am Valznerweiher
So wurde zum Beispiel 2021 in einem Keller auf dem Gelände des 1. FC Nürnberg eine Kiste mit 12.000 alten Karteikarten entdeckt. Sie stammten aus den Jahren 1928 bis 1955 und dokumentieren damit die Mitgliedsentwicklung im Dritten Reich. Der BR berichtete vom Sensationsfund am Valznerweiher. Kurios: Der Hausmeister hatte die grauen, unscheinbaren Kartons zufällig gefunden. Daraufhin wurden 143 Fälle von Mitgliedern recherchiert, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens aus dem Verein geworfen wurden.
Ein Schlaglicht auf die NS-Historie des VfB Stuttgart
Hoffnung auf eine ähnliche Entdeckung besteht also auch beim VfB. Bis dahin kann allerdings nur das Leben von Dr. Ney ein Schlaglicht auf diese finstere Phase der Vereinshistorie werfen. Ein Rückblick auf ein bewegtes Leben. Und eine Reise ins dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte:
Richard Ney, geboren am 1. April 1897 in Stuttgart, meldet sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger. Wenige Wochen zuvor hat er im Alter von 17 Jahren die sogenannte „Notreife“ an einem Realgymnasium erhalten. Als Angehöriger des Grenadiere-Regiments 119 und als Unteroffizier im Infanterie-Regiment 475 erlebt er die Hölle des 1. Weltkrieges. Im Mai 1917 wird er verwundet. Bauchschuss, OP in Bonn - für ihn ist der Krieg damit vorbei.
Für seine Einsätze an der Front erhält er das Eiserne Kreuz 1. Klasse sowie die Württembergische Militärverdienstmedaille in Silber. Noch im Lazarett schreibt er sich für das Wintersemester 1917/18 an der Eberhards-Karl-Universität in Tübingen für ein Medizinstudium ein. Auf Stationen in Freiburg und München folgt Ende 1921 seine Dissertation „Über die komplizierten Fußverrenkungen“. 1923 lässt er sich als „Praktischer Arzt und Geburtshelfer“ in der Hohenheimer Straße 9 in Stuttgart nieder. Und er wird Mitglied in der Hockey-Abteilung des VfB Stuttgart.
Erster Vereinsarzt in der VfB-Historie
Wie die Vereinsnachrichten berichten, übernimmt er 1925 die Leitung der erst im Sommer 1919 gegründeten Abteilung. Unter seinem Vorsitz erlebt die junge Sparte nach internen Streitigkeiten einen Aufschwung. Spieler werden hinzugewonnen, Ausflüge organisiert und Feste gefeiert. „Die Krisis ist überwunden“, schreibt Ney. Im selben Jahr absolviert er einen „Spezial-Sportarzt-Kurs“ und wird der erste Vereinsarzt in der Geschichte des VfB.
Ney entwickelt sich fortan zum stadtbekannten Fachmann, auch seine Praxis oberhalb des Olgaecks floriert. Und nicht nur das: Er berät die Polizeidirektion, wirkt als freiwilliger Hilfsarzt beim Roten Kreuz und als Vertrauensarzt mehrerer Lebensversicherungen. Die VfB-Fußballer sind in diesen Jahren ebenfalls regelmäßig zur Behandlung bei Dr. Ney.
„Seine Praxis war sehr gut und hatte sich bis 1933 ständig entwickelt, so dass täglich 60 bis 70 Patienten im Durchschnitt kamen“, berichtet ein ehemaliger Angestellter. Beruflich wie privat läuft alles bestens für den Mediziner. 1930 kommt Sohn Robert auf die Welt. Gemeinsam mit Frau Anna lebt die Familie in der Bopserwaldstraße oberhalb des Weißenburgparks mit toller Aussicht auf den Kessel.
Antisemitische Repressalien nach 1933
Dann kommt der große Einschnitt. Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler. Mit Fackeln ziehen die Nationalsozialisten anschließend durch die Straßen Berlins. Es ist der Auftakt für eine zwölf Jahre währende Schreckensherrschaft, die letztlich in den 2. Weltkrieg und das Menschheitsverbrechen der Shoah führt.
Auch in Stuttgart bekommt der jüdische Arzt Richard Ney schnell die ersten antisemitischen Repressalien zu spüren. Zwar darf er als Kriegsteilnehmer seine Kassenzulassung zunächst behalten, doch vor allem nach dem Inkrafttreten der „Nürnberger Rassegesetze“ im September 1935 kehren zahlreiche Patienten seiner Praxis den Rücken. „Obwohl sie gerne gekommen wären“, schreibt ein ehemaliger Mitarbeiter, hätten sich viele nicht mehr getraut, „zu einem jüdischen Arzt in Behandlung zu gehen“. Er selbst habe „wegen Mangel an Arbeit bei Herrn Dr. Ney auch nicht mehr arbeiten können“.
Am 1. Oktober 1938 wird Ney aus dem Württembergischen Arztregister gestrichen. Unter Androhung „schwerer Strafen“, so schreibt Ney, ist ihm die Ausübung seines Berufs fortan untersagt. Er gehört zu den letzten 20 Ärzten in Stuttgart, denen von den Nazis die Approbation entzogen wird.
Eine NSDAP-Kundgebung auf dem Wasen und ihre Folgen
Aus seinem Verein ist er zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen. Bereits 1932 gibt es am Wasen eine große Austrittswelle. Laut Gregor Hofmann verlässt ein Drittel der damals etwa 1000 Vereinsmitglieder den VfB. Über die Gründe kann bislang nur spekuliert werden. Wahrscheinlich ist aber, dass viele Mitglieder dem VfB wegen eines Paktes mit der NSDAP den Rücken kehren.

Der Vereinsvorsitzende Hans Kiener, seit Mai 1932 Parteimitglied, hatte im Juni 32 den vereinseigenen „Platz bei den drei Pappeln“ in Bad Cannstatt für eine Nazi-Großveranstaltung zur Verfügung gestellt - und damit offensichtlich für eine Menge Ärger in der Mitgliedschaft gesorgt.
Die „Stuttgarter Erklärung“ aus dem April 1933
Am 9. April 1933, also keine drei Monate nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, beschließen dann 14 prominente Fußballvereine aus Süddeutschland auf Einladung der Stuttgarter Kickers in der sogenannten „Stuttgarter Erklärung“ den Ausschluss aller Mitglieder jüdischen Glaubens. Sie würden sich der nationalen Regierung „freudig und entschieden“ zur Verfügung stellen und „insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen“ die „nötigen Folgerungen“ ziehen.
„Das hatte zu diesem Zeitpunkt keine staatliche Autorität eingefordert“, sagt Gregor Hofmann, „wir müssen also davon ausgehen, dass es mindestens in einem vorauseilenden Gehorsam passiert ist.“ Für Hofmann zeigt die „Stuttgarter Erklärung“, „wie freiwillig und wie erstaunlich eigeninitiativ die großen Vereine mitgemacht haben.“

Der VfB gehört zwar nicht zu den Unterzeichnern, schließt kurze Zeit später aber seine jüdischen Vereinsmitglieder durch die Übernahme des sogenannten „Arierparagraphen“ in die Satzung aus dem Verein aus. Ab 1934 nennt sich der VfB-Präsident „Vereinsführer“.
„Der VfB hat sich genauso schlecht verhalten wie viele andere Vereine. Er ragt durch sein Mitmachen nicht heraus, sondern stellt den Normalfall im bürgerlichen Sport dar“, bilanziert Hofmann.
Gestapo-Haft und Gerichtsprozess
Bevor Ney 1941 Stuttgart verlassen kann, wird er von der Gestapo verhaftet und muss sich vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart behauptet, er habe gegen Bezahlung Abtreibungen durchgeführt. Mehrere Monate sitzt er in U-Haft, ehe er 1939 freigesprochen wird. In den 50er Jahren stellt Ney einen Antrag auf Haftentschädigung. Er wird abgelehnt. Begründung: Die Haft habe „keine rassischen, sondern kriminelle Gründe gehabt.“
„An Neys Schicksal lassen sich nicht nur Schikanen und gesellschaftliche Entsolidarisierung nachvollziehen, sondern auch der staatliche Raub an jüdischem Eigentum“, schreibt Gregor Hofmann in seiner Studie. 25.000 Reichsmark muss das Ehepaar als sogenannte „Judenvermögensabgabe“ entrichten. Anschließend machen sich die Neys im Juni 1941 auf den Weg ins Ausland. Gerade noch rechtzeitig. Im Herbst informiert der Leiter des zuständigen Amtes IV im Reichssicherheitshauptamt die Dienststellen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) über ein Ausreiseverbot für Juden. Die Verordnung trägt den Vermerk „Geheim“. Die Betroffenen, so das Kalkül, sollen nicht in Unruhe versetzt, die beginnenden Deportationen nicht gefährdet werden.
Denn: Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion – das „Unternehmen Barbarossa“ startet am 22. Juni 1941 - beginnen die Nazis mit der systematischen Vergasung von Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder aus allen besetzten Gebieten Europas in eigens dazu eingerichteten Vernichtungslagern.
Flucht in buchstäblich letzter Sekunde
Anna und Richard Ney gelingt also in buchstäblich letzter Sekunde die Flucht aus dem Reich. Über Spanien kommen sie schließlich in die USA, am 13. Juli 1941 erreichen die beiden New York. Ein Jahr später erhält Richard Ney eine Arztlizenz, 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft, ab 1944 lebt die Familie in South Dayton südlich von Buffalo am Lake Erie. Und von dort aus kämpft der Arzt nun für Entschädigungen.
1957 meldet er sich beim Landesamt für Wiedergutmachung. Bereits 1940 war bei Ney ein Zwölffingerdarmgeschwür festgestellt worden. Zudem hatte er nach seiner Auswanderung immer wieder Schwächeanfälle, weshalb er nicht mehr in der Lage ist, bei Operationen zu assistieren. In einem Attest von 1959 heißt es: „Die durch die Naziverfolgung entstandenen dauernden Aufregungen und seelischen Erschütterungen haben bei dem Antragsteller eine Gesundheitsbeschädigung hervorgerufen.“
Es folgt eine bürokratisch kühle Auflistung der erlebten Grausamkeiten: Verfolgung und Vernichtung jüdischer Freunde, Verhaftung des Schwiegervaters, Angst vor Verschickung ins Konzentrationslager. Sein „Schaden an Gesundheit“ wird teilweise anerkannt, auch für einen großen Teil ihres eingezogenen Vermögens erhalten die Neys eine Entschädigung. Immerhin. Zurück bleiben die seelischen Narben.
Rückkehr nach Stuttgart und Wiedersehen mit dem VfB
Gleich dreimal kehrt Ney nach dem Krieg dennoch nach Stuttgart zurück. Dabei legt er unter anderem in einem Brief an den Oberbürgermeister Arnulf Klett großen Wert darauf, Menschen zu erwähnen, die auch in Stuttgart Widerstand gegen das Nazi-Regime geleistet und jüdische Familien unterstützt haben. Ney schreibt 1964: „Dank gilt allen, die unter Hintenansetzen ihres eigenen Lebens uns in unserer schweren Zeit mit Rat und Tat zur Seite standen.“
Selbst mit seinem alten Verein gibt es ein Wiedersehen. Als der VfB Stuttgart im Mai 1961 zu Freundschaftsspielen in die Vereinigten Staaten reist, besucht Ney die Partien und es gibt ein gemeinsames Abendessen im berühmten Lokal Red Coach Inn nahe der Niagarafälle. „Er freute sich riesig, seinen VfB um sich zu haben, und erkundigte sich lebhaft nach den Kameraden aus seiner Zeit in Stuttgart“, heißt es im dazugehörigen Reisebericht in den Vereinsnachrichten.
Dort meldet sich Ney zudem anlässlich von runden Geburtstagen oder Todesfällen immer wieder zu Wort. Kurz vor seinem eigenen Tod gratuliert er zum Beispiel dem damaligen Präsidenten Fritz Walter zum 70. Geburtstag: „Ich wünsche Ihnen ein weiterhin rüstiges, leiblich und seelisch gesundes Leben.“
Auch drückt er den Fußballern in der 1963 gegründeten Bundesliga aus der Ferne die Daumen. „‘Ihr müsst es schaffen!‘ So lautet die Parole unseres lieben Doktor[s], dem wir herzlichen Dank sagen“, heißt es in einer Ausgabe von 1964. „Mehr Begeisterung kann der eingefleischteste VfBler nicht an den Tag legen.“
Ney stirbt am 28. Juni 1970 im Alter von 73 Jahren in den USA, seine Frau Anna am 25. November 1989 im Alter von 84 Jahren. Und bis es zu neuen Entdeckungen kommt, muss Neys Schicksal exemplarisch für zahlreiche andere Juden stehen, die während der NS-Zeit aus dem VfB Stuttgart ausgeschlossen wurden. Ein einsames, aber eindrucksvolles Mahnmal gegen das Vergessen.
Weitere Informationen
Wo kann ich mich melden?
- Informationen, Anliegen und Archivalien können per Mail an die historische Abteilung des Vereins unter archiv@vfb-stuttgart.de geschickt werden.
Zum Weiterlesen:
- Hofmann, Gregor: Der VfB Stuttgart und der Nationalsozialismus (2018)
- Rueß, Susanne: Stuttgarter Ärzte während des Nationalsozialismus (2009)
- Homepage der historischen Abteilung des VfB Stuttgart: https://www.vfb.de/de/1893/club/vfb-e-v-/geschichte/
Zum Weiterhören: