In der „Hölle“ von Kadıköy: Wie der VfB Stuttgart in Istanbul bestehen will
Istanbul. Wenn der Bus des VfB Stuttgart am Donnerstagabend (23.10.) in Richtung Kadıköy rollt, wird der Weg durch diese Stadt auch ein Weg in eine andere Fußballwirklichkeit. Polizeieskorten, blockierte Straßen, eine Atmosphäre zwischen Rausch und Bedrohung – und am Ende dieses Weges das Ülker Stadyumu Şükrü Saracoğlu Spor Kompleksi, 50.000 Plätze, flirrende Hitze, bengalische Glut. Für viele Stuttgarter wird es die lauteste Nacht ihres bisherigen Fußballlebens. Für ihren Trainer Sebastian Hoeneß wird es eine Bewährungsprobe, für seinen Gegenüber Domenico Tedesco eine Rückkehr zu den Wurzeln.
„Wir haben Respekt, aber genauso freuen wir uns auf die Aufgabe“, sagt Hoeneß auf der Pressekonferenz am Tag vor dem Europa-League-Spiel. Es klingt nüchtern, fast besonnen – und doch weiß jeder beim VfB, was auf sie zukommt. Fenerbahce Istanbul, das ist ein Klub, der mit seiner Wucht Räume verformt. „Sie werden uns alles abverlangen – gerade mit den heimischen Fans im Rücken.“ Die Stuttgarter wissen, dass die ersten Minuten entscheidend sein können. „Gerade in der Anfangsphase müssen wir uns schnell akklimatisieren“, sagt Hoeneß. Kapitän Atakan Karazor hat sich derweil schon vorgewarnt: „Ich habe bei der Nationalmannschaft Fener-Spieler gefragt, was da los sein wird. Die meinten: Das wird die Hölle.“
Warum das Spiel auch für Istanbul-Trainer Domenico Tedesco ein besonderes wird
Für Domenico Tedesco ist es das neunte Pflichtspiel als Fenerbahce-Trainer – und doch ein sehr persönliches. Der 40-Jährige, in Aichwald aufgewachsen, begann seine Trainerlaufbahn im Nachwuchs des VfB Stuttgart. Jetzt, 2000 Kilometer weiter südöstlich, trifft er auf den Verein, der ihm damals eine erste Chance gab. „Ich komme aus der Region, und der Verein gab mir die Möglichkeit, im Jugendbereich Fuß zu fassen“, sagt er.
Seit seinem Amtsantritt am Bosporus im September hat Tedesco turbulente Wochen erlebt. Erst die Ankunft, dann ein Machtwechsel im Klub: Sadettin Saran löste den langjährigen Präsidenten Ali Koç ab. In der Türkei bedeutet das oft ein neues Kapitel voller Ungewissheiten – diesmal blieb Tedesco davon verschont. Noch wohnt er in einem Hotel, eine Wohnung hat er keine Zeit zu suchen. Dafür hat er schon eine Mannschaft geformt, die „eine Idee, eine Identität“ zeigt, wie Hoeneß anerkennend sagt.
Tedesco selbst lobt den Gegner, fast mit Respekt aus der Ferne: „Sie haben generell sehr viel Ballbesitz, agieren aber äußerst flexibel. Unter Sebastian Hoeneß machte der VfB zuletzt Riesenschritte.“
VfB vs. Fenerbahce: Auch ein Duell der Ideen
Es ist ein bemerkenswertes Zusammentreffen zweier Trainer, die beide über Struktur, Kontrolle, Energie denken. Der VfB reist nach fünf Siegen aus den letzten sechs Pflichtspielen an, zuletzt mit einem 3:0 in Wolfsburg, das fast lehrbuchhaft zeigte, wie weit diese Mannschaft gekommen ist. Fenerbahce dagegen ist in der Liga noch ungeschlagen, aber nicht frei von Schwächen. Ab der 65. Minute, heißt es in der Türkei, schwinde oft die Kraft. Hoeneß sieht darin eine Möglichkeit: „Natürlich versuchen wir, über unsere Intensität und unsere Art zu spielen sie zu beeindrucken – über Taktik, aber auch über Leidenschaft und Laufbereitschaft.“ Und Leidenschaft wird nötig sein, wenn das Spiel kippt, wenn der Lärm aus Kadıköy zur Naturgewalt wird. „Die Fans sind unglaublich“, sagt Hoeneß. „Das wird etwas Besonderes für alle von uns.“
Ein Ort, der Geschichten sammelt
Das Ülker Stadyumu Şükrü Saracoğlu Spor Kompleksi liegt auf der asiatischen Seite Istanbuls, im Stadtteil Kadıköy – einem Ort, der so sehr nach Fußball klingt, dass man die Tore schon in der Luft zu hören glaubt. 19 Meistertitel, Platz eins in der ewigen Tabelle der Süper Lig, erste türkische Mannschaft mit einem europäischen Pokal (Balkanpokal 1967). Und immer wieder Deutsche auf der Bank: Werner Lorant, Christoph Daum, Joachim Löw.
Daum, der 1992 den VfB zur deutschen Meisterschaft führte, gewann hier zweimal den Titel, Löw holte den Atatürk-Pokal. Es ist, als zöge sich zwischen Stuttgart und Fenerbahce eine leise, eigentümliche Linie – Trainer, Temperamente, Ideen, die einander kennen, auch wenn sie nie gleichzeitig am selben Ort waren. Ex-VfB-Trainer Tayfun Korkut, von 1995 bis 2000 Spieler bei Fenerbahce, sagte der Stuttgarter Zeitung: „Die Fans gehen in allen Stadionteilen mit. Das wird ein großes Erlebnis. Diese Emotionalität gibt es aber in beide Richtungen: Wenn es im Spiel nicht läuft, wird es auch mal ruhiger. Und dann kann wieder eine kleine Aktion aus einem Funken ein Feuer machen. Entscheidend für den VfB wird sein, wie er dieser Wucht begegnet und ob er die Stimmung auf den Rängen beeinflussen kann. Die ersten Minuten werden extrem wichtig.“
Für die mitreisenden VfB-Fans wird der Abend streng choreografiert. Treffpunkt Sultanahmet-Platz, dann Buskonvoi unter Polizeibegleitung. Im Stadion gilt: kein Aufenthalt außerhalb des Gästebereichs, „ akute Sicherheitsgefahr für erkennbar auswärtige Fans“. Nach dem Spiel Nachverweildauer bis zu zwei Stunden – auch das ist Kadıköy: eine Choreografie der Leidenschaft und der Kontrolle.
Wenn der Ball rollt, wird es darum gehen, wer sein Spiel auf den Rasen bekommt. Fenerbahces Flügelstürmer – schnell, trickreich, mit riesiger individueller Qualität – gegen Stuttgarts kollektive Klarheit. „Wir wollen ihnen nicht die Möglichkeit geben, sich zu entfalten. Wir wollen den Ball in unseren Reihen haben“, sagt Hoeneß. Ein Satz, der fast schon ein Programm beschreibt: Kontrolle als Schutz vor der Hölle.
Ob das gelingt, weiß niemand. Aber es passt zu dieser Mannschaft, dass sie sich darauf freut. Kadıköy, der Ort, an dem andere zittern – für den VfB Stuttgart soll er ein Prüfstein werden. Und vielleicht der nächste Schritt auf einem Weg, der längst wieder nach oben führt.