Die große Verunsicherung: Rechtsextremismus an Schulen in der Region Stuttgart
Stuttgart/Waiblingen. Hakenkreuze und Hitlergrüße im Klassenzimmer, Lehrer, die den Nationalsozialismus verharmlosen und Neonazis, die Nachwuchs rekrutieren wollen: Schulen in der Region Stuttgart haben verstärkt mit Rechtsextremismus zu kämpfen. Lehrer, Schüler und Menschen, die in der Beratung tätig sind, schlagen Alarm. Das Problem scheint weitaus größer, als bisher öffentlich diskutiert wird. Eine Recherche im Dunkelfeld.
Die Recherche: Ein Drahtseilakt
Wenn rechtsextreme Gruppen immer jüngere Mitglieder haben, muss sich das auch an Schulen bemerkbar machen. So weit die Theorie. Doch zu dem Thema ist nur wenig zu hören. Belastbare Zahlen gibt es nicht, Vorfälle werden häufig nicht öffentlich bekannt. Gleichzeitig meldet die Beratungsstelle Leuchtlinie einen drastischen Anstieg rechter Gewalt: „Schulen und andere Bildungsstätten wurden zunehmend zu Tatorten.“
Wir haben in den letzten Wochen mit vielen Menschen aus dem Kontext Schule über das Phänomen gesprochen – und dabei zu hören bekommen: Rechtsextreme Vorfälle haben stark zugenommen. Nur öffentlich darüber sprechen, das scheint schwierig. Genauso wie der Umgang damit.
Die Fälle: Hakenkreuze, Hitlergrüße, Machtlosigkeit
Um überhaupt zu diesem Thema recherchieren zu können, mussten wir viel Vertrauen aufbauen. Wir haben zugesichert, Namen von Informanten und Einrichtungen auf Wunsch zu anonymisieren – viele waren nur unter diesen Umständen bereit, mit uns zu sprechen. Die Gründe dafür waren vielfältig: Das Bedürfnis, Minderjährige vor Öffentlichkeit zu schützen gehörte ebenso dazu wie die Angst, Probleme zu bekommen.
Uns wurde berichtet, dass im Umfeld mehrerer Schulen verstärkt rechtsextreme Aufkleber und Hakenkreuz-Schmierereien auftauchen. Bilder und Videos, die uns vorliegen, zeigten Rechtsextremisten beim Verteilen von Propagandamaterial auf Schulgeländen. Wir hörten mehrfach von Hitlergrüßen, auch unter jüngeren Schülern. Und von Lehrern, die den Nationalsozialismus verharmlosen. Manche Schulen, hieß es, bringen Vorfälle konsequent zur Anzeige. Uns kontaktierten aber auch Menschen, die einen intransparenten Umgang mit dem Thema beklagen. Oder sich machtlos fühlen.
Das klingt abstrakt. Doch eine detaillierte Beschreibung würde Rückschlüsse auf reale Personen und betroffene Schulen zulassen. Nur so viel: Der überwiegende Teil der Fälle, die an uns herangetragen wurden, betrifft weiterführende Schulen. Aber nicht alle.
Der Schulleiter: „Da ist man erstmal hilflos“
An einer Grundschule in der Region sind in den letzten Monaten mehrfach Hakenkreuze aufgetaucht. „Im Grundschulbereich ist man erstmal hilflos“, sagte der Schulleiter unserer Redaktion. „Die Kinder kommen mit der Thematik im Primarbereich nicht in Berührung, die verstehen das gar nicht.“ Nationalsozialismus wird in der Schule ab der 9. Klasse behandelt, auch um jüngere Kinder vor den Gräueltaten des NS-Regimes zu schützen. „Man darf in dem Alter keine Ängste schüren, weil die Kinder das noch nicht verarbeiten können.“
Solche Fälle sind in Baden-Württemberg nicht alltäglich, sie stellen auch Beratende vor Herausforderungen. Wie thematisiert man einen Vorfall, dessen Hintergründe man den Kindern nicht zumuten will? Der Schulleiter hat nach eigener Aussage viele Hebel in Bewegung gesetzt, um zu informieren, um aufzuarbeiten, um präventiv dagegen vorzugehen. „Für uns war es wichtig, uns zu distanzieren und den Eltern zeigen, dass wir dieses Verhalten nicht tolerieren“, sagte er. „Wir wollen vermitteln: Es ist egal, wo wir herkommen und wie wir aussehen, wir gehören zusammen.“ Der Fall wurde auch dem Ministerium gemeldet. Wer für die rechtsextremen Schmierereien verantwortlich ist, bleibt unklar.
Die Zahlen: „Eine massive Zunahme“
„Seit Anfang des Jahres haben wir eine massive Zunahme von Fällen“, sagt Mathieu Coquelin. Er ist Geschäftsführer der Fachstelle Extremismusdistanzierung in Baden-Württemberg, kurz FEX. Andere Beratungs- und Fachstellen melden dasselbe. „In Kombination mit der Ratlosigkeit der Schulen im Umgang damit. Das fängt schon bei der Frage an: Zeigt man das an? Zeigt man das nicht an?“
Diese Unsicherheit begegnet uns häufig bei unseren Recherchen. Die Fachstelle will ihr etwas entgegensetzen. Sie bietet Workshops zu Demokratieförderung, Medienkompetenz und Extremismusprävention – für Jugendliche und alle, die mit Jugendlichen arbeiten. FEX bekommt dadurch auch mit, was an Schulen passiert. Und was sich verändert.
Die Gründe: Sylt, Potsdam, USA
„Die erste große Bugwelle kam zeitlich versetzt nach diesem Sylt-Video“, sagt Mathieu Coquelin. Auf dem Video, das medial intensiv thematisiert wurde, sah man junge Menschen zu dem Song „L’amour tojours“ von Gigi D’Agostino „Ausländer raus“ grölen – eine Parole, die man sonst von Neonazi-Demos kannte. „Damals haben sich Schulen bei uns gemeldet und gesagt: Wir erleben sowas, das nimmt zu, das nimmt spürbar zu.“ Auch Schulen aus dem Großraum Stuttgart seien darunter gewesen.
Nach dem „Sylt-Video“ kam die Correctiv-Recherche zum rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam, Massenproteste inklusive. Coquelin hat dazu ein ambivalentes Verhältnis. „Einerseits wussten Jugendliche jetzt, wie sie provozieren können. Das hat dazu geführt, dass wir neben diesen Gesängen auch Fälle mit ‚Sieg Heil‘-Rufen, Hitlergrüßen, Hakenkreuzen, SS-Runen und sowas hatten“, sagt er. Die eindrückliche Recherche habe die Gesellschaft aber auch wachgerüttelt. „Die Schulen haben im größeren Umfang Fälle gemeldet, die Bereitschaft, sich grundsätzlich damit auseinanderzusetzen, ist gestiegen.“
Coquelin sieht weitere Triggerpunkte: Die Wahl von Donald Trump, inklusive des Hitlergrußes von Elon Musk. „Das hat gezeigt: Ich kann mächtig und erfolgreich sein und gleichzeitig Chauvinist, rechtsextreme Symbole zeigen.“ In Gesprächen mit Schülern würden außerdem Namen wie Andrew Tate oder Hoss und Hopf fallen. „Männlichkeit, Transphobie, Diskurse, die nicht verstanden und dann ins Lächerliche gezogen werden – all das kann eine Brücke in den Rechtsextremismus schlagen.“

Die Sozialen Medien: Rechtsextreme Propaganda
Julian Röper arbeitet bei mobirex, der mobilen Beratung gegen extreme Rechte und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Baden-Württemberg. Die Fachstelle unterstützt alle Menschen, die sich mit der extremen Rechten auseinandersetzen müssen oder wollen, mit nachhaltigen Maßnahmen, die „Handlungssicherheit herstellen“ sollen – sprich: Hilfe zur Selbsthilfe. Außerdem behält mobirex über ein Monitoring extrem rechte Vorfälle im Auge. „Wir bekommen zunehmend Fälle, in denen Schülerinnen und Schüler sich extrem rechts oder diskriminierend geäußert haben.“ An Schulen tauchen Szene-Aufkleber, Hakenkreuz-Schmierereien und Ähnliches auf.
Eine Ursache sieht Röper in der Medienstrategie extrem rechter Parteien und Gruppen. „Sie nutzen verstärkt Plattformen, auf denen sich junge Menschen bewegen, für ihre Propaganda.“ Die AfD fahre auf Tiktok regelrechte Kampagnen. „Ein anderer Grund ist der allgemeine Rechtsruck. Dass sich der Ton in öffentlichen Debatten massiv verschärft hat und das normalisiert wird.“ Auch die multiplen Krisen, auf die Jugendliche Antworten suchen, spielen eine Rolle, sagt er. „Extrem Rechte bieten einfache vermeintliche Lösungen und Schuldzuweisungen für komplexe Probleme.“
Die Unsicherheit: Was heißt Neutralität?
Bei mobirex haben sich im Laufe des Jahres vermehrt Lehrer und Sozialarbeiter gemeldet, sagt Röper. „Lehrkräfte sind häufig überfordert mit der Situation, fragen nach der Rechtslage, fragen nach Handhabe und Argumentationshilfen, fühlen sich herausgefordert darauf eine Antwort zu geben.“ Dazu komme auch eine Unsicherheit, was genau die Neutralitätspflicht bedeutet. „Wie weit dürfen sich Lehrkräfte gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und extrem rechte Aussagen überhaupt positionieren?“
Diese Frage begegnet uns extrem häufig während unserer Recherche. Was heißt eigentlich Neutralität? Häufig wird der „Beutelsbacher Konsens“ angeführt, der die Grundlage politischer Bildung darstellt. Die darin formulierten Leitlinien sollen Schüler beispielsweise vor Indoktrination durch Lehrkräfte schützen – eine Lehre aus dem Nationalsozialismus.
Ein Neutralitätsgebot lässt sich daraus nicht ableiten, sagen Fachleute. „Werden die zentralen Grundprinzipien unserer Verfassung […] infrage gestellt oder gar verletzt, ist es geradezu die Pflicht der Lehrkraft, keine neutrale Position einzunehmen und stattdessen diese Grundprinzipien zu verteidigen und offen für sie einzutreten“, heißt es im Standardwerk „Didaktik der politischen Bildung“.
Die Verunsicherer: Wie die AfD Lehrkräfte einschüchtert
Wie kommt es, dass trotzdem so viel Unsicherheit herrscht? Das liege auch an der AfD, sagen uns Menschen, die in der Beratung tätig sind, aber namentlich nicht genannt werden wollen.
2018 hat die rechtsextreme Partei in Baden-Württemberg ein „Meldeportal“ für Lehrkräfte gestartet, die sich kritisch zur AfD äußern – einen Internetpranger. Der Lehrerverband hatte das als „Einschüchterungsversuch“ scharf kritisiert. Obwohl das „nie einen realen Effekt hatte“, habe die AfD von dem Pranger profitiert, so die Beratenden. Die Partei habe Lehrkräfte verunsichert. Das mache sich immer noch bemerkbar, auch in der Beratung. „Fällt in einem Workshop das Wort AfD, dann bekommt die Schulleitung eine E-Mail, dann wird eine Drohkulisse aufgebaut, auch von Menschen, die in Parlamenten sitzen.“
Julian Röper beobachtet noch ein anderes Phänomen: „Wir konnten feststellen, dass bisweilen sogar Lehr- oder Fachkräfte angefeindet werden, die sich öffentlich antifaschistisch positionieren oder sich gegen die AfD aussprechen.“
Dazu kommen Fragen wie: Was passiert, wenn ich mich äußere? Habe ich Rückendeckung von der Schulleitung? Hat die Schulleitung Rückendeckung vom Ministerium? Wo nehme ich überhaupt die Zeit her, mich darum zu kümmern? Noch schwieriger scheint es für Schüler, die mit rechtsextremen Aussagen von Lehrkräften konfrontiert sind: An wen kann ich mich wenden? Wer glaubt mir?
Das Dunkelfeld: Warum sehen wir die Fälle nicht?
Wenn es so viele rechtsextreme Vorfälle an Schulen gibt, wieso sind sie nicht sichtbar? Verunsicherung ist dafür eine mögliche Erklärung. Mathieu Coquelin sieht eine andere Ursache im „kompletten Fehlen von Meldewegen innerhalb des Schulsystems“. Es gebe zwar eine Meldemaske für antisemitische Vorfälle, aber mit jedem Fall müsse direkt angegeben werden, wie die Schule damit umgeht. „Aber Schulen wissen nicht, wie damit umgehen und melden das dann im Zweifel nicht.“ So entstehe ein „riesengroßes Dunkelfeld, angelegt im System.“
Andere Beratende kritisieren, dass die Meldemaske nur für antisemitische Vorfälle gedacht ist. „Was ist mit Rassismus? Queer-Feindlichkeit? Misogynie? Anderen Arten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit?“ Auch bei mobirex sieht man Nachholbedarf: „Aus unserer bisherigen Arbeit ist nicht immer klar nachvollziehbar, wie mit eskalierenden Fällen in den übergeordneten Behörden umgegangen wird – insbesondere, ob und wie sie in Statistiken oder Berichte einfließen.“ Denn tun sie das nicht, bleiben sie unsichtbar.
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