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Kinderpsychotherapeutin aus Stuttgart warnt: Kitas sind Risiko für Kleinkinder

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Symbolbild. © Pixabay / CC0 Creative Commons

Der Stress in den Familien nimmt immer mehr zu. Das beobachtet die Stuttgarter Kinderpsychotherapeutin Gisela Geist seit Jahren. Sie sagt: "Man redet beim Thema Stress meist von den Erwachsenen. Aber eigentlich sind vor allem die Kinder betroffen." Psychische Auffälligkeiten hätten deutlich zugenommen, Psychotherapeuten und Psychiater klagten über einen enorm zunehmenden Andrang. In Kindergärten und Schulen nehme unsoziales Verhalten der Kinder untereinander zu. Lehrer klagten außerdem über Konzentrationsmängel und Respektlosigkeit.

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Gisela Geist. © privat

Zurückzuführen ist das aus ihrer Sicht neben dem zunehmenden Medienkonsum vor allem auf die "ungeeignete Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren und die zu frühe Trennung von den Eltern“. Gisela Geist hat daher schon vor Jahren einen "Aufruf zur Wende in der Frühbetreuung von Kindern" in der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Deutschland e.V. (VAKJP) initiiert. Im Interview begründet sie ihre Haltung:

Frau Geist, Sie setzen sich seit Jahren für Ihre Initiative „Gute erste Kinderjahre“ ein. Was hat es damit auf sich? 

Es geht mir darum, zu informieren, worauf es bei Kindern unter drei Jahren ankommt, damit sie sich bestmöglich entwickeln können, und wie wichtig dabei die Eltern und eine sichere Bindung sind. Familien werden dagegen, ausgehend von wirtschaftlichen und politischen Interessen, dahingehend beeinflusst, ihr Kind möglichst früh in eine Fremdbetreuung zu geben. Auch wirtschaftlich sehen sich viele Eltern zu früher außerfamiliärer Betreuung genötigt, da nur diese finanziell unterstützt wird.

Mit Schlagwörtern wie: „Frühe Bildung“ oder "Kinder brauchen Kinder" werden dabei Vorteile der frühen Fremdbetreuung propagiert. Dabei sind solche Argumente aus entwicklungspsychologischer und neurobiologischer Sicht für unter Dreijährige nicht haltbar.

In den ersten Lebensjahren ist es entscheidend, dass die Bedürfnisse und Emotionen eines Kindes zuverlässig und liebevoll reguliert werden, je jünger es ist, desto schneller. Das schafft ein stabiles Urvertrauen, die Basis eines positiven Selbst(wert)gefühls, einer nachhaltigen, gesunden Selbstständigkeit und Sozialkompetenz. In sicherer Bindung zu wenigen, vertrauten Erwachsenen werden so in den ersten drei Lebensjahren die Grundlagen gelegt für alle emotionalen und kognitiven Fähigkeiten eines Menschen. Dies ist die beste und nachhaltigste „Frühe Bildung“.

Der Mangel an Zuwendung, Trost und Sicherheit führt zu frühkindlichem Stress, der die körperliche und seelische Gesundheit lebenslang beeinträchtigen kann. In Kitas U 3 erlauben die Rahmenbedingungen keine ausreichend sichere Bindung. Daher stellt die frühe Fremdbetreuung ein Risiko für eine gesunde kindliche Entwicklung dar.

Wie kommen Sie zu all diesen Schlussfolgerungen? 

Dazu gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Stresshormon Cortisol ist dabei ein verlässlicher Indikator. In mehreren Studien wurde der Cortisolspiegel von Kleinkindern in Kitas mit dem von zu Hause betreuten Kleinkindern verglichen. Das Ergebnis:

Je jünger die Kinder, je länger die Betreuung, desto höher ist die Stressbelastung - selbst bei relativ guter Krippen-Qualität. Das liegt unter anderem an der frühen Trennung von den Eltern, an der Reizüberflutung, den häufigen Betreuerwechseln, den zu vielen Kindern auf eine Fachkraft und an der Gruppensituation, bei der die Kleinen sich gegenseitig oft mit ihren unreifen Bedürfnissen und Emotionen belasten. Soziales Verhalten kann ein Kleinkind nur von emotional reifen Erwachsenen lernen, nicht von Kleinkindern, die noch auf emotionale Regulation angewiesen sind.

Den Stress merkt man den Kindern jedoch oft nicht oder kaum an, wie zum Beispiel die Wiener Krippenstudie von 2012 berichtet. Psychische Folgen zeigen sich meist erst später.

In meiner Praxis erlebe ich oft frühbetreute Kinder, die auf den ersten Blick selbstbewusst und vertrauensvoll wirken. Bei näherem Kennenlernen kann man dann häufig Rastlosigkeit, die Unfähigkeit, mit einem Thema oder Menschen tiefer in Beziehung zu gehen, Langeweile mit dem Verlangen nach Außenreizen, eine innere Unruhe und Ablenkbarkeit erkennen, was sich später zum Beispiel in ADHS-Diagnosen widerspiegeln kann.

Sehen Sie das nicht alles zu extrem?

Die Rahmenbedingungen der Kita-Betreuung haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert, so dass in Kitas immer weniger angemessen auf die Grundbedürfnisse von Kleinkindern eingegangen werden kann. Das belegen auch Studien, etwa die jährliche Studie des Deutschen Kitaleitungskongresses. Der enorme, weiter zunehmende Fachkräftemangel ist ja bekannt. Auf meiner Homepage www.gute-erste-kinderjahre.de äußern sich zum Beispiel auch Erzieherinnen und Erzieher in Erfahrungsberichten dahingehend. Eltern werden häufig unter sozialen Druck gesetzt, entgegen ihrer gesunden Einfühlung und Intuition.

Heutzutage können die wenigsten Familien von nur einem Gehalt leben. Wie sollten Eltern sich denn organisieren? 

Zunächst müssten Eltern über die frühe Entwicklung, ihre Bedeutung als Eltern und die Zustände in Kitas fachgerecht informiert werden. Dann wäre es in vielen Fällen möglich, angemessenere Lösungen zu finden. Ein Krippenplatz kostet die öffentliche Hand derzeit zum Teil 1800 Euro. Wenn die Eltern in den ersten drei Jahren auch nur die Hälfte davon als Betreuungsgeld bekämen, hätten viele die Wahlfreiheit zwischen Selbst- und Fremdbetreuung. Dann könnte es bessere Rahmenbedingungen in den Kitas geben.

Würden wir damit nicht völlig in traditionelle Familienbilder zurückfallen?

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist derzeit in unserer Gesellschaft nicht wirklich gegeben. Auch leiden vor allem die Mütter häufig unter Stress. Sie haben das Gefühl, weder den Kindern noch ihrer Arbeit gerecht werden zu können. Wenn die Väter mehr Verantwortung und Betreuung übernähmen und außerdem familiäre Betreuung finanziell angemessen unterstützt würde, könnte schließlich von einem Fortschritt in der Gleichberechtigung gesprochen werden, ohne dass die Kinder mit ihren elementaren Bedürfnissen vernachlässigt werden müssten.

Eltern sollten sich klarmachen:  Für ihr Kind geht es beim Start ins Leben um die emotionale Basis ihrer Persönlichkeit. Ist diese brüchig, setzt sich das im späteren Leben in allen Bereichen fort. Angesichts von 40 Berufsjahren geht es doch nur um wenige Jahre, die sie ihrem Kind schenken. Diese Mühe lohnt sich langfristig auch für die Eltern.

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