Schüsse in Reutlingen, Razzia in Stuttgart: Reichsbürger-Gefahr unterschätzt?
Einen Tag nach der Reichsbürger-Razzia in mehreren Bundesländern ist die Bestürzung weiter groß. Ein Mann hatte bei einer Durchsuchung am Mittwoch (22.03.) in Reutlingen einem Polizisten des Spezialeinsatzkommandos (SEK) in den Arm geschossen. Wie der Generalbundesanwalt am Donnerstag (23.03.) mitteilte, befindet sich der Mann mittlerweile in Haft. Recherchen von Zeit Online zufolge war er als Sportschütze legal im Besitz einer Waffe. Er spendete 2017 Geld an die AfD und soll im Mai 2021 bei einer Querdenker-Demo in der Region mitgelaufen sein. Die Beamten fanden bei ihm laut Innenminister Thomas Strobl (CDU) ein „perverses“ Waffenarsenal. Gegen den Mann wird wegen mehrfachen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung ermittelt.
Durchsuchung in Stuttgart: Was wurde gefunden?
Zu der Durchsuchung in der Region Stuttgart teilte ein Sprecher des Generalbundesanwalts (GBA) am Donnerstagvormittag mit, dass ein Objekt im Stadtkreis Stuttgart durchsucht wurde. Was wurde dort gefunden? „Dazu äußern wir uns nicht“, so der Sprecher. Am Mittwoch hieß es dazu, dass Durchsuchungen bei Zeugen – wie in Stuttgart – nur dann möglich seien, wenn erwartet wird, dass dort Beweismittel gefunden werden. Eine ideologische Nähe der Zeugen zur Reichsbürger-Szene lasse sich daraus aber nicht ableiten.
Reichsbürger-Razzia: Ermittlungen gegen mutmaßliche Terrorgruppe
Die Durchsuchungen in insgesamt 20 Objekten stehen im Zusammenhang mit der großangelegten Razzia gegen die mutmaßliche Reichsbürger-Terrorgruppe um den Adligen Heinrich Prinz Reuß vom Dezember 2022. Sie richteten sich gegen insgesamt fünf Beschuldigte, die der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt werden. In Baden-Württemberg wurde laut GBA neben Reutlingen und Stuttgart in den Regionen Tübingen und Rottweil durchsucht – in allen Fällen bei Menschen, die als Zeugen im Ermittlungsverfahren geführt wurden.
Umsturz mit Waffengewalt: Polizisten und Soldaten unter den Verdächtigen
Die mutmaßliche Reichsbürger-Terrorgruppe soll den gewaltsamen Umsturz des demokratischen Systems in Deutschland geplant haben. Aktive wie ehemalige Polizisten und Soldaten finden sich unter den Verdächtigen. Mittlerweile richten sich die Ermittlungen gegen rund 60 Beschuldigte aus dem Reichsbürger- und Querdenker-Milieu.
Studie der KAS: Wie weit verbreitet ist die Reichsbürger-Ideologie?
Die Konrad Adenauer Stiftung (KAS) hat am Donnerstag (23.03.) die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zum Thema Reichsbürger-Ideologie veröffentlicht. Für die Studie wurden bis April 2022 über 5.500 zufällig ausgewählte Personen befragt. Zudem wurden mit 90 dieser Menschen weitere Interviews geführt, um deren Weltbild detaillierter zu erfassen.
Mit welcher Reichsbürger-Definition wurde gearbeitet?
Der Autor der Studie, Referent Dominik Hirndorf, schreibt: „Im Kern handelt es sich bei Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern um Personen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf ein ‚Deutsches Reich‘ ablehnen und damit dem Rechtssystem und den demokratisch gewählten Repräsentanten die Anerkennung verweigern.“
Wurde das Gewaltpotenzial der Reichsbürger bisher unterschätzt?
Die Studie kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen:
- „Jeder 20. Deutsche weist Reichsbürger-affine Einstellungen auf“ – überdurchschnittlich häufig gelte das für AfD-Anhänger.
- Die Reichsbürger-affinen Personen haben ein sehr niedriges Vertrauen in den Staat und ignorieren dessen Gesetze überdurchschnittlich oft.
- Die Studie zeigt Überschneidungen der Szene zu Verschwörungsideologie und Rechtsextremismus auf. „Besonders stark unterscheiden sich die Reichsbürger-affinen Personen vom Bevölkerungsdurchschnitt in der Zustimmung, dass Medien von den ‚Herrschenden‘ gesteuert sind und im Glauben an geheime Mächte“, so der Autor. „Etwa zwei Drittel der Reichsbürgeraffinen stimmen zu, während der Bevölkerungsdurchschnitt diese Meinungen klar ablehnt.“
- Die Reichsbürger-affinen Befragten zeigten ein deutlich erhöhtes Gewaltpotenzial. „Die Zahl der potenziellen Gefährderinnen und Gefährder mit Reichsbürgerhintergrund könnte somit höher ausfallen als bisher vermutet.“ Das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzte das Potenzial der gewaltorientierten Reichsbürger und „Selbstverwalter“ 2021 auf etwa 2.100 Personen.
Die Studie ist in vollem Umfang auf der Website der Konrad Adenauer Stiftung abrufbar. Sie trägt den Titel: „Kein Staat, meine Regeln“.
Hinweis der Redaktion: Im ersten Absatz wurde nach der Veröffentlichung des Artikels eine mutmaßlich falsche Altersangabe entfernt.