VfB Stuttgart

Deniz Undav und der letzte Funke Anarchie: Was den VfB-Instinktstürmer ausmacht

Fußball  Borussia Dortmund vs. VfB Stuttgart
VfB-Stürmer Deniz Undav jubelt über eines seiner drei Tore in Dortmund – ein Instinktangreifer aus fast vergangener Zeit, der dem Topspiel im Signal-Iduna-Park seinen eigenen Rhythmus aufzwingt. © Julia Rahn

Dortmund. Der BVB führt 2:0, der VfB Stuttgart wankt – und dann passiert etwas, das im modernen Fußball fast ausgestorben ist: Ein Instinktstürmer übernimmt. Drei Tore von Deniz Undav, ein spektakuläres 3:3 und ein Nachmittag, der sogar im Signal-Iduna-Park kurz die Zeit anhält. Wie der „Straßenkicker“ aus Stuttgart eine ganze Partie umschrieb – und warum dieser Punkt für den VfB größer ist, als es auf den ersten Blick scheint.

Deniz Undav geht ein paar Schritte rückwärts, hebt beide Hände, als müsse er sich selbst davon überzeugen, was hier passiert ist – drei Tore in Dortmund, ein Punkt für den VfB Stuttgart, der sich wie ein Sieg anfühlt. Und dann sagt er diesen Satz, leise fast, als wolle er ihn nicht überstrapazieren: „Ich habe keine Worte dafür.“ Natürlich hat er Worte dafür. Und doch auch wieder nicht. Denn die Geschichte, die Deniz Undav an diesem Samstagnachmittag im Signal-Iduna-Park erzählt, ist eine, die sich nur schwer in Sätze pressen lässt. Eine Geschichte über Instinkt, über Trotz, über diesen anarchischen Funken, der dem modernen Fußball viel zu oft abhanden gekommen ist. Und über einen Straßenkicker, der in einer Welt aus Pressingzonen und Passquoten so wirkt, als käme er aus einem Hinterhof, in dem die Tore noch aus Rucksäcken gebaut werden.

„Und dann fängt Deniz Undav an“

Fabian Wohlgemuth hatte es in der Halbzeit gespürt. 0:2 lag der VfB hinten, zwei Dortmunder Treffer, einer davon ein Elfmeter, über den man in Stuttgart noch lange sprechen wird. „Und dann fängt Deniz Undav an“, sagt der Sportvorstand später, als wolle er den Beginn einer Naturgewalt beschreiben. Vielleicht ist es auch genau das.

In diesen Stürmern der alten Schule – und Undav ist einer von ihnen – steckt eine Form von Trotz, die sich mit Daten nur schlecht erfassen lässt. Sie brauchen keinen Rhythmus, keine Warmfahrphase. Sie sind plötzlich da. Von null auf hundert, wie Trainer Sebastian Hoeneß sagt. Und dann muss man hoffen, dass man zufällig auf ihrer Seite steht.

47. Minute: der Anschluss. 70. Minute: der 2:2-Ausgleich. Und als Karim Adeyemi in der 89. noch einmal für Dortmund trifft und der Signal-Iduna-Park bebt wie ein Kraftwerk in der Überlast, da scheint der Nachmittag seine natürliche Ordnung wiedergefunden zu haben. Doch dann ist da diese 90.+1. Minute, in der Undav sich im Strafraum um Nico Schlotterbeck dreht, als wäre der ein Verkehrspylon, und den Ball mit aufreizender Lässigkeit ins Netz schiebt. „Weltklasse“, nennt er es später, und niemand im VfB-Umfeld widerspricht.

VfB-Regisseur Stiller schmunzelt: Zwischen Kreisklasse und Weltklasse

Angelo Stiller grinst, als er es sagt: „Zwischen Kreisklasse und Weltklasse.“ Es ist liebevoll gemeint und ziemlich treffend. Denn Undav ist keiner, der sich für die Hochglanzversion dieses Sports interessiert. Er weiß, wie Kreisliga schmeckt – er hat dort genug Zeit verbracht. Und vielleicht ist es genau deshalb, dass er an diesem Nachmittag in einer Arena voller Nationalspieler wirkt wie jemand, der einfach nur auf einem Bolzplatz gewonnen hat.

Er trifft mit dem Rücken zum Tor, weil er in diesen Momenten offenbar mehr sieht als andere. Er trifft im Fallen, im Drehen, im Chaos. Dreierpack Nummer zwei in seinem 64. Bundesligaspiel. Sechs Tore gegen Dortmund, Spitzenwert. Und als ihn jemand auf die Heim-WM im kommenden Jahr anspricht, sagt er: „Ich muss konstant gut spielen und treffen, dann sehen wir weiter.“ Der Satz ist ordentlich, vernünftig, nationsmannschaftskompatibel. Aber in Wahrheit denkt er vermutlich: Lass zuerst den nächsten Ball kommen.

„Ein abgezockter Hund“ und ein verärgerter Trainer

Dortmunds Maximilian Beier nennt ihn „einen abgezockten Hund“. Und BVB-Trainer Niko Kovac steht nach Abpfiff da wie jemand, dem man gerade den Autoschlüssel gezogen hat. „Wir haben heute zwei Punkte verschenkt“, knurrt er. Der wettergegerbte BVB-Kapitän Emre Can grummelt: „Ein 2:0 müssen wir nach Hause bringen.“ Die Stimmung beim BVB: „am Boden“, wie Beier es ausdrückt.

Vielleicht ist das die größte Leistung dieses Stuttgarter Nachmittages: dass man Dortmund nicht nur einen Punkt abgeknöpft hat, sondern die schwarzgelbe Selbstsicherheit gleich mit.

Der VfB wächst weiter – und diesmal gibt es etwas dafür

Der VfB Stuttgart hatte schon vor diesem Wochenende gezeigt, dass er mit den Großen der Liga mithalten kann. In Leipzig spielte er gut und verlor. In mehreren anderen Partien spielte er gut und gewann nicht. Doch dieses 3:3 in Dortmund ist anders. Es ist verdientes Zählbares, ein Punkt, der sich anfühlt wie eine Bestätigung. Eine Mannschaft, die sich nach einem 0:2 auswärts, vor 80.000 Zuschauern, nicht nur auflehnt, sondern zurückkommt, hat sich selbst etwas bewiesen. „Ein Stehaufmännchen“, nennt Wohlgemuth das. Hoeneß spricht von „unglaublicher Moral“. Finn Jeltsch sagt: „Ein geiler Typ, einfach top.“ Gemeint ist Undav – aber eigentlich steht der Satz für die ganze Mannschaft.

Nach Abpfiff sucht Undav seinen alten Freund Waldemar Anton, jetzt in Dienst des BVB. Die Umarmung zwischen beiden dauert einen Moment länger. Zwei, die sich gut kennen, sich mögen bestimmt – und doch könnten die Gefühlslagen an diesem Abend kaum unterschiedlicher sein. Als Undav später vom Platz geht, begleitet ihn ein leiser Jubel aus dem Gästeblock. Kein ekstatisches Brausen, sondern dieses warme, fast stolze Geräusch, das entsteht, wenn eine Mannschaft mehr zeigt, als man ihr vielleicht zugetraut hatte.

Undav verschwindet im Kabinentrakt. Der Geruch von Rasen hängt noch an ihm, der Schweiß, der Nachmittag. Und man hat das Gefühl, dass er dort gleich wieder etwas tun wird, das für diese Spezies Instinktstürmer typisch ist: einfach weitermachen. Bis zum nächsten Spiel. Bis zum nächsten Moment, der nach ihm ruft. Bis zu dieser nächsten Szene, in der man sagt: Jetzt fängt Deniz Undav an.

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