Demirović liefert und Hoeneß beweist Mut: Wie sich der VfB Ruhe verschafft
Stuttgart. Nick Woltemade verkauft, Deniz Undav verletzt – und plötzlich lastet alle Last des Torschießens auf Ermedin Demirović. Der Bosnier trägt sie spielend: Zauber-Tor in Freiburg, Treffer und Vorlage beim 2:0 gegen St. Pauli, dazu als Kapitän vorweggegangen. Trainer Sebastian Hoeneß findet die richtige Balance aus Mut und Impulsen, der VfB Stuttgart zeigt die ersehnte Reaktion. Europa-League-Start kann kommen – mit einem Stürmer, der keine Fragen offenlässt.
Manchmal erzählt sich eine Geschichte am einfachsten über das, was fehlt. Nick Woltemade? Nach Newcastle verkauft für eine Mondsumme. Deniz Undav? Wochenlang raus mit einer Knieverletzung. Und so stand auch vor dem Heimspiel gegen St. Pauli diese Frage im Raum wie eine Mahnung in Rot und Weiß: Wer schießt jetzt die Tore für den VfB?
„Wir sind – im positiven Sinne – wie die Verrückten angelaufen“
Die Antwort kam von dem, auf dessen Schultern der ganze Druck lag – und der ihn lässig wegschob. Ermedin Demirović, bosnischer Nationalstürmer, 27 Jahre alt, traf nicht nur. Er zauberte. Erst die elegante Vorarbeit zum 2:0 von Bilal El Khannouss, davor das kühle 1:0, das er St. Paulis Keeper Nikola Vasilj aus spitzem Winkel am Ohr vorbeischnibbelte. Schon eine Woche zuvor hatte er in Freiburg mit einem Hackentor für Staunen gesorgt, ein Treffer wie aus der Kunstgalerie.
„Wir sind – im positiven Sinne – wie die Verrückten angelaufen“, sagte Demirović hinterher. „Blocks und gewonnene Zweikämpfe haben wir genauso gefeiert wie Tore.“ Dann hielt er kurz inne und lächelte. „Und für mich war es etwas Besonderes, als Kapitän auflaufen zu dürfen.“
Trainer Sebastian Hoeneß hatte ihm die Binde gegeben – und er bekam einen Stürmer zurück, der die Bühne nutzte. Während draußen die Cannstatter Kurve eine Pokalsieger-Choreo zündete, spielte Demirović mit der Leichtigkeit eines Mannes, der keine Rechenschaft schuldig ist. Zauber-Tor, Vorlage, 84 Minuten unermüdliche Laufarbeit.
Karazor auf die Bank: Eine Entscheidung, die Mut und Konsequenz verlangt
Das war nicht nur eine persönliche Gala, es war auch eine Antwort auf die Sturmdebatte, die Stuttgart seit Wochen begleitet. Woltemade weg, Millot verkauft, Undav verletzt: Kaum ein Klub in der Liga hat im Sommer so viel Offensiv-Potenzial verloren – und keiner musste es so laut diskutieren. Der eine teuer verkauft, der andere lange verletzt, und irgendwo dazwischen die Frage, ob der VfB ohne seine Stars an Durchschlagskraft verliert. Demirović hat die Debatte kurzerhand für beendet erklärt.
Auch sein Trainer trug seinen Teil bei. Hoeneß stellte um, schickte Kapitän Atakan Karazor auf die Bank und brachte den 20-jährigen Spanier Chema Andrés neben Angelo Stiller auf die Doppelsechs. „Wir wollten Impulse geben, die haben wir bekommen“, erklärte er später. Kein großes Tamtam, aber eine Entscheidung, die Mut und Konsequenz verlangt.
Denn der VfB spielte nicht nur offensiv schärfer, er lief auch mehr. „Offensichtlich hatten wir ein bisschen mehr Zugriff auf die Siegermentalität“, sagte Sportvorstand Fabian Wohlgemuth etwas ungelenk. „Wir hatten von Anfang an eine andere Körpersprache, eine andere Energie.“ Hoeneß schob das nicht auf Zauber oder Zufall. „Wir sind nach der Niederlage in Freiburg fokussiert geblieben“, sagte er. „Es tut gut, vor eigener Kulisse zu gewinnen – erst recht, wenn die Fans uns so eine Choreo schenken.“
Und so stand am Ende ein 2:0, das mehr war als ein Sieg gegen den bis dahin ungeschlagenen FC St. Pauli. Es war ein Statement: Der VfB kann auch ohne die abgewanderten oder verletzten Stars Tore schießen, Spiele dominieren und Energie freisetzen. El Khannouss, der Neuzugang aus Leicester, feierte sein erstes Heimtor, Chema Andrés spielte wie ein Sechser aus dem Lehrbuch, und Alexander Nübel hielt in der Drangphase der Gäste, was zu halten war. Doch der Mann des Abends blieb Demirović, der nicht nur die Tore erzielte, sondern das Spiel trug. Er presste, sprintete, rieb sich in Zweikämpfen auf – und wirkte dabei nie gehetzt. Fast so, als hätte er diesen Druck gebraucht. „Mich freut es, wenn ich der Mannschaft mit Toren und Vorlagen helfen kann“, sagte er später.
Woltemade? Undav? Demirović!
Die Bedeutung geht über diesen Abend hinaus. Schon am Donnerstag beginnt für Stuttgart die Europa-League-Reise mit dem Heimspiel gegen Celta Vigo, am Sonntag wartet in der Liga der 1. FC Köln. Hoeneß weiß, dass er rotieren muss. „Wir kommen in eine Phase, in der wir sehr viel spielen“, sagte er, „da wird es wichtig sein, dass wir den Kader auch einsetzen.“ Aber was immer in den nächsten Wochen passiert: Der Stürmer, um den sich die ganze Diskussion drehte, hat die Antwort schon gegeben. Woltemade? Undav? Demirović! Und vielleicht ist genau das die beste Nachricht für einen Klub, der sich in diesem Spätsommer noch sucht. Denn wenn ein Spieler den Druck nicht spürt, der alle anderen beschäftigt, kann er ihn für die Mannschaft tragen.