Der VfB Stuttgart schwebt weiter auf Wolke sieben: Welcome to Paradise City!
Eine sinnhafte Prognose, wie lange der aktuelle Höhenflug des VfB Stuttgart noch anhalten wird, gibt es nicht. Umso mehr genießen Fans, Spieler und Verantwortliche die fast schon in Vergessenheit geratene Hochstimmung rund um den Wasen. Ist aus den Abstiegskämpfern der vergangenen Jahre tatsächlich eine Spitzenmannschaft geworden?
Der beste Saisonstart der VfB-Bundesligahistorie
Mitunter müssen die Verantwortlichen im roten Clubhaus an der Mercedesstraße 109 inzwischen auch mit der Schwerkraft kämpfen. Wie bleibt man angesichts des fast schon unheimlichen Höhenflugs mit beiden Beinen auf dem Boden? Sechs Siege nach sieben Spieltagen, der bester Saisonstart der VfB-Bundesligahistorie. Dazu mit Chris Führich den besten Vorlagengeber der Liga und mit Serhou Guirassy Europas (!) Top-Scorer in den eigenen Reihen. Erling Haaland in England (8 Tore), Lautaro Martinez in Italien (10), Robert Lewandowski in Spanien (5) und Kylian Mbappe in Frankreich (7): Guirassy stellt sie aktuell mit seinen 13 Saisontoren alle in den Schatten.
Zudem wurde am Wochenende mit dem VfL Wolfsburg ein Gegner mit internationalen Ambitionen niedergekämpft. 3:1 nach 0:1-Rückstand – ein hartes Stück Arbeit, aber ein letztlich hochverdienter Erfolg. Dass sich die MHP-Arena mittlerweile in regelmäßigen Abständen in die von „Guns n‘ Roses“ nach Stuttgarter Siegen besungene „Paradise City“ verwandelt, ist für manchen Anhänger nach Jahren der Tristesse fast schon zu schön, um wahr zu sein. Auch die Medien staunen. „Der Hype ist endgültig real“, schreibt die Stuttgarter Zeitung, wohingegen sich die Bild-Zeitung gewohnt in Zurückhaltung übt: „So eine Rekordsaison gab's noch nie!“. Derweil reibt man sich bei der Süddeutschen Zeitung in München verwundert die Augen: „So langsam wird’s unheimlich.“
Unheimlich schön, würde Sportdirektor Fabian Wohlgemuth wohl anmerken wollen. Wäre da nicht der Woche für Woche komplizierter werdende Kampf gegen die Schwerkraft. „Es ist total wichtig“, betont Wohlgemuth, „dass wir demütig bleiben.“ Dabei gehe es allerdings nicht darum, „dass wir jede Woche unsere neue Bescheidenheit zur Schau stellen, sondern das ist unser Stilmittel, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Bisher ist uns das ganz gut gelungen.“
VfB-Coach Hoeneß: „Haben jetzt 18 Punkte für eine sorgenfreie Saison geholt“
Dem pflichtet auch Cheftrainer Sebastian Hoeneß bei, der sich auf einmal mit Fragen nach dem internationalen Fußball-Geschäft konfrontiert sieht – und das, obwohl er mit seinem Team noch vor wenigen Monaten in der Relegation um den Klassenerhalt kämpfen musste. „Ich finde es legitim, dass diese Fragen gestellt werden“, meint der stets umgängliche Hoeneß. Nur um dann noch den entscheidenden Nachsatz anzubringen: „Aber wir haben jetzt 18 Punkte für eine sorgenfreie Saison geholt und wir tun gut daran, genau so weiterzumachen.“
In Stuttgart hebt also niemand ab. Zwar sind all die Träumereien erlaubt (und nach den sportlich wenig berauschenden 2010er Jahren auch ausdrücklich zum Genießen empfohlen), doch ist aus dem Fast-Absteiger tatsächlich schon ein Europapokal-Anwärter geworden? Die Zahlen untermauern diese These jedenfalls. Die bisher besten VfB-Saisonstarts von 1982, 2003 und 2004, als jeweils fünf Siege und zwei Remis nach sieben Spieltagen zu Buche standen, führten allesamt in den damals noch UEFA-Cup genannten Wettbewerb.
Der VfB auf Kurs Europa?
Und dann wäre da ja noch die inoffizielle, dadurch aber keineswegs minder interessante Hoeneß-Tabelle. Sie dient vielmehr als Beleg dafür, dass es sich beim aktuellen Lauf der Schwaben um mehr als eine Momentaufnahme handelt.
Am 03. April hat Hoeneß den seinerzeit akut abstiegsgefährdeten Traditionsverein von Bruno Labbadia übernommen und inzwischen saisonübergreifend 15 Liga-Spiele plus die erfolgreiche Relegation gegen den HSV gecoacht. Das Ergebnis: 31 von 45 möglichen Punkten wurden eingesackt. Nur Bayern (33), Leipzig und der BVB (je 35) waren im vergangenen halben Jahr noch erfolgreicher. Zum Vergleich: Der aktuell strauchelnde 1. FSV Mainz 05 holte im betreffenden Zeitraum nur magere acht Zähler.
Serhou Guirassy, ein Stürmer für die Geschichtsbücher
Der Trend ist also mehr als nur der Freund der Stuttgarter. Und ganz besonders von Torjäger Serhou Guirassy. Der trifft und trifft und trifft. Gegen Wolfsburg schoss er seine Saisontore elf, zwölf und 13. Der erste lupenreine Hattrick eines VfB-Spielers seit Cacau im Februar 2010. Zudem hat kein anderer Profi in der Bundesliga-Geschichte nach sieben Spieltagen so häufig getroffen. Ein Stürmer für die Geschichtsbücher.
„Er ist der große Kopf des Erfolgs“, sagt der Trainer, während Guirassy mit seinem Statement nach dem Schlusspfiff auch den letzten noch skeptischen Fan auf Wolke sieben beförderte: „Ich habe so viel Freude daran, hier zu spielen. Ich liebe Stuttgart, es ist einfach ein guter Verein, eine schöne Stadt.“ Der Mann aus dem südfranzösischen Arles an der Rhone hat sich also in seine schwäbische Wahl-Heimat verguckt. Das will was heißen in diesen turbokapitalistischen Zeiten.
Und da aktuell niemand seriös prognostizieren kann, wie lange der VfB-Lauf noch anhalten wird, genießen Fans, Spieler und Verantwortliche eben den Moment. Mit beiden Beinen fest am Boden. Aber jederzeit bereit zum Abheben.